Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
gewaltige Gebäude wie alle seiner Art in einem beständigen Restaurierungsprozess. Deshalb gibt es auch heute noch einen Dombaumeister. Der steht in einer endlosen Kette von Personen, die dieses hohe Amt über die letzten sieben Jahrhunderte innehatten, und derjenige, der heute für alle Baumaßnahmen am Dom verantwortlich ist, wird viele Nachfolger haben. Wenn man Dombaumeister ist, übt man zweifellos eine nachhaltige Tätigkeit aus, weil man sich innerhalb eines Rahmens bewegt, der Jahrhunderte zuvor festgelegt wurde. Natürlich verändern sich die Aufgaben mit der Technik und der jeweiligen Umweltsituation, aber abgesehen davon, ist die Arbeit des Baumeisters eingeschrieben in ein Projekt, das viele Generationen vor ihm begonnen hat und viele Generationen nach ihm beendet sein wird, falls überhaupt jemals.
Viel Zeit: Kölner Dom um 1820, Grundsteinlegung 1248.
Man kann sagen: Das lohnt sich. Der Kölner Dom ist nach wie vor die meistbesuchte Sehenswürdigkeit Deutschlands, nicht nur, weil seine Türme die dritthöchsten weltweit sind. So ein Dom transportiert Zukunft, weil er von einer Glaubensvorstellung getragen ist, die jenseits menschlicher Zeitskalen angesiedelt ist. Aber erstaunlich ist doch, dass so ein altes Gebäude, das weder dem Zeitgeist noch seinen Funktionalitätserfordernissen, noch seiner ökonomischen Rationalität entspricht, immer noch sprachlos macht, wenn man vor ihm steht oder sich in ihm aufhält. Überhaupt sind ja die Kirchen und ihre Türme nach wie vor fast überall und besonders im ländlichen Raum die Landmarks, die man aus den weitesten Entfernungen sieht, und die, Säkularisierung und Kirchenaustritte hin oder her, von Welten künden, die andere sind als die der Gegenwart. Diese Gebäude haben kein Verfallsdatum.
Ganz im Unterschied zu denen, die heute gebaut werden und deren berechnetes Lebensalter schon nach ein paar Jahrzehnten abgelaufen sein wird. Ganz zu schweigen von den Instant-Bauten der Discounter, diese auf Abriss gebauten kulturellen Verfallszustände, die sich in keiner Weise um ihr jeweiliges Umfeld bekümmern und überall, in Innenstädten, Vorstädten, Dörfern, Shopping malls wie Hütten für Hunde dastehen, zu denen man schlecht sein darf. Sie dienen dem einzigen Zweck, Waren möglichst unaufwendig umzuschlagen, und deshalb sind sie reine Gegenwart. Ihre Mitteilung: In dieser Gegenwart geht es um nichts anderes, als Dinge zu kaufen, egal unter welchen Umständen.
Man kann Dom und Kaufhundehütte als diametrale Konzepte darüber verstehen, worum es im Leben geht und welches Verhältnis jeweils zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft herrscht. Die Erbauer des Kölner Doms, der Sixtinischen Kapelle oder der Potsdamer Heilandskirche waren jeweils daran interessiert, ihr Werk für künftige Menschen so bedeutsam sein zu lassen, wie es ihnen selbst erschien: Deshalb spielt keine Rolle, welche Zeit und welche Mühe in sie eingehen muss. Dasselbe gilt für die Lebenszeit der Baumeister, die ihre Gebäude oft nicht mehr als vollendete gesehen haben. Noch mehr gilt das für die Gartenbaumeister des 18. und 19. Jahrhunderts, die ihre Ideallandschaften in der Imagination entwarfen, dass die Blätter der frisch gepflanzten Bäume in einem hundert Jahre entfernt liegenden Herbst ein genau abgestimmtes Farbspiel zeigen würden. Das ist eine Kalkulation mit den Eigenzeiten und den Eigenlogiken einer domestizierten Flora – aber welche Vorstellungen über die Durchlässigkeit und Unbedeutsamkeit des Gegenwartspunktes kommen darin zum Ausdruck! Ein solcher Park, ein solches Bauwerk werden in eine Zukunft hinein entworfen, und genau damit gestalten sie diese Zukunft mit, verleihen ihr eine historische Signatur.
Das Erlebnis, das man heute beim Durchwandern des Wörlitzer Gartenreichs oder des Babelsberger Parks haben kann, stammt aus einer anderen Zeit und ist zugleich ganz gegenwärtig. Es verbindet Zeitspannen praktisch über viele Generationen hinweg und ist um die Begrenztheit individueller Lebenszeit ganz unbekümmert. Solche Nachhaltigkeit ist ein Beitrag zur Ästhetik des guten Lebens.
Die Menschen, die heute im Rahmen der transgenerationellen Zeitlichkeit solcher Projekte arbeiten, die vor ihnen entstanden und nach ihnen bestehen werden, arbeiten in einem völlig anderen temporalen Verhältnis als das Personal in den Kaufhundehütten. Sie arbeiten paradoxerweise viel mehr an der Zukunft, obwohl sie an Historischem arbeiten. Die nachhaltige Moderne erfordert
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