Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Gegebenheiten ihrer Existenz immer mehr ignoriert. Das Kulturmodell einer nachhaltigen Moderne würde gerade diese Kausalität in den Mittelpunkt rücken – das ist, wiederum mit Hans Jonas gesprochen, die Anerkennung der Nicht-Autarkie der menschlichen Existenz: Jede Lebensform, auch die menschliche, hängt vom Stoffwechsel mit der Natur ab.
Bündnisse
Bei aller berechtigten Kritik an der Postdemokratie [154] und an der Entpolitisierung der Öffentlichkeit: Die wachsende Kritik an der Politikerpolitik hat auch zu einer produktiven Abwendung von den Schemata geführt, in die das Politische sortiert wird. »Links« und »rechts« sind heute Anachronismen. Weder ist die »linke« Emphase in Bezug auf Arbeitnehmerrechte und Arbeitsplatzsicherung zukunftsfähig, noch sind es die vorgeblichen Mittelstandsorientierungen von FDP und christlichen Parteien. Konservative sind heute für das Ehegattensplitting für schwule Lebensgemeinschaften und Linke für den Erhalt von Arbeitsplätzen in der Rüstungsindustrie oder gleich Lobbyisten für Gazprom.
Da politische Inhalte nur noch performativ, kaum aber mehr programmatisch eine Rolle spielen, sind alle Parteien sozialdemokratisch geworden, was für die Sozialdemokraten übrigens genauso ein Profilierungsproblem bedeutet wie die ubiquitäre Ergrünung für die Grünen. Beiden Parteien ist der »unique selling point« abhandengekommen, was dazu führt, dass fast alle Wähler ihre Positionen super finden, dann aber jemand anderes oder gar nicht wählen.
Solche List der Geschichte deutet aber nur an, dass sich die klassischen politischen Sortierkategorien überlebt haben. Unter anderem zeigt sich das auch darin, dass keine einzige der deutschen Parteien eine andere Gesellschaftsvorstellung vertreten würde als die, die sich im 20. Jahrhundert herausgebildet hat. Im Kern wollen sie alle die marktwirtschaftliche Demokratie in mehr oder minder nachhaltiger Version; niemand will die nachhaltige Demokratie in mehr oder minder marktwirtschaftlicher Version. Da die politischen Programmatiken im 20. Jahrhundert gebildet worden sind, finden sie keine Antworten auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts, die sich in der Frage zusammenfassen lassen, wie sich das errungene zivilisatorische Niveau mit radikal reduziertem Ressourcenverbrauch halten lässt. Green economy ist darauf gewiss keine Antwort, die traditionelle Wachstumswirtschaft schon gar nicht.
Die klassischen Links-rechts-Schemata existieren absurderweise nur noch auf der Ebene der Selbstbilder der politischen Akteure, nirgendwo sonst. Nur die haben heute noch die Stirn, sinnvolle Konzepte ausschließlich deshalb zu bekämpfen, weil sie von jemandem aus der anderen Partei vorgeschlagen wurden und hirnrissige über die Peinlichkeitsgrenze hinaus zu vertreten, weil sie aus der eigenen Partei kommen. Dieser clowneske Charakter der ganz zu Unrecht »Realpolitik« genannten Politikerpolitik hat, wie schon gesagt, in der jungen Generation für eine Diskreditierung von allem geführt, was in diesem Sinne als Politik bezeichnet wird. Und der Umstand, dass die Frage nach der nachhaltigen Moderne ganz andere, schicht- und klassenunspezifische Probleme aufwirft als die nach dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, hat die tradierten Antinomien ganz zu Recht gegenstandslos werden lassen. Die Demarkationslinie des Politischen verläuft heute zwischen Zukunftsfeindlichkeit und Zukunftsfähigkeit.
Das eröffnet nun ganz neue Bündnismöglichkeiten. So wie problemlos Brücken zu schlagen sind zwischen den Hardcore-Ökos des Ökodorfs »Sieben Linden« und früheren Topmanagern, wenn es um Postwachstumsstrategien geht, so kann es Koalitionen geben zwischen christlichen Schöpfungsbewahrern und interkulturellen Gartenaktivisten oder zwischen Container-Taucherinnen und Sterneköchen: Wenn es nämlich um die Wertschätzung von Nahrung geht. Solche Kombinatoriken sind neu und wertvoll, weil sie disparate Fähigkeiten zusammenführen und bündeln, die unter traditionellen politischen Voraussetzungen unverbunden bleiben. Die Idee zum Beispiel, Fischereirechte zu erwerben und in die genossenschaftliche Bewirtschaftung lokaler Gemeinschaften zu geben, kann nur in einem Bündnis zwischen vermögenden Geldgebern, lokalen Produzenten und interkulturell versierten und vertrauenswürdigen Aktivisten vor Ort in die Praxis umgesetzt werden. Mit solchen Kombinatoriken von Geld, Macht, Listigkeit, lokaler und sozialer Intelligenz lässt sich der
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