Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
Entscheidungen werden in der Regel nicht aus Mordlust, Sadismus oder ideologischer Überzeugung getroffen, sondern weil man Teil einer Gruppe ist, die eine Aufgabe zu bewältigen hat. Würde man sich anders entscheiden, würde man Solidaritäts- und Loyalitätsverpflichtungen verletzen – und die sind in einer konkreten Gruppensituation für den Einzelnen viel verbindlicher als moralische Überzeugungen.
Dasselbe gilt für Gewalthandeln im Krieg. Unter derselben Handlungsbedingung, etwa ein Dorf einzunehmen, handeln alle Soldaten der Sache nach gleich – egal, welchen Bildungshintergrund und Rang sie haben, aus welcher Gegend sie stammen oder was sie sonst an Biographie mitgebracht haben. [161] Und Überzeugungen spielen, wie sozialpsychologische Konformitätsexperimente ausnahmslos zeigen, nur im Ausnahmefall die wichtigste Rolle dafür, welche Entscheidung jemand situativ trifft – viel wichtiger ist es, soziale Normen nicht zu verletzen, soziale Anerkennung nicht zu riskieren, gut vor den anderen dazustehen . Das alles ist nicht trivial: Weil Menschen soziale und kooperative Wesen sind, ist Konformität, wie gesagt, viel wahrscheinlicher als Abweichung und in den allermeisten Fällen auch vernünftiger. Anders gesagt: Konformität ist das jederzeit Erwartbare.
Insofern ist der gefühlte soziale Druck, trotz aller gefühlter Dissonanz den verdammten Thunfisch einfach zu essen, enorm. Und vor allem: Die Entscheidung, ihn einfach ohne weiteres Aufheben zu genießen (wenn schon, denn schon!), liegt viel näher, als es nicht zu tun. Denn das Erwartbare fordert keine Erklärung, das Abweichende muss begründet werden. In solchen Situationen sagt man nicht selten sogar die Unwahrheit, um es nicht zu kompliziert zu machen: Eine probate Lösung wäre hier die Behauptung gewesen, Vegetarier zu sein. Schluss. Denn dann ist der Konflikt für alle Beteiligten kategorial abgehakt und im Rahmen der Konvention gelöst: Ja, wenn das so ist …
Viel konfliktträchtiger gestaltet sich dagegen die offene Zurückweisung: »Tut mir leid, ich kann den Thunfisch nicht essen, das steht in Widerspruch zu allem, was ich gerade vorgetragen habe.« Warum? Weil ich mit dieser Wahrheit ja die Entscheidung jedes einzelnen anderen Gastes in Frage stelle, seinen Thunfisch freudig zu verzehren. Und nicht nur das: Ich kritisiere ja indirekt auch noch die unüberlegte Idee, überhaupt Thunfisch als Vorspeise bestellt zu haben, stelle damit die Einladenden bloß und bin in jeglicher Hinsicht asozial: der Partykiller.
Wollen Sie wissen, wie die Situation gelöst wurde? Durch die soziale Kompetenz des Gastgebers, der auf meinen eher vagen Einwand, das könne ich jetzt »eigentlich« nicht essen, sofort meinen Teller nahm und ihn dem Küchenchef mit der Aufforderung zurückgab, mir doch was anderes zu servieren. Durch diese spontane Bündnispartnerschaft wurde die Situation gerettet – man hatte nun sogar Anlass, das Geschehene selbst zum Thema zu machen: Wie verhält man sich eigentlich im Alltag, wenn die eigenen guten Vorsätze in Sachen Nachhaltigkeit auf vielfältige, oft nur scheinbar triviale Widerstände stoßen?
Dieses kleine Beispiel soll lediglich deutlich machen, wie schwer es auch in scheinbar unwichtigen Situationen sein kann, seinen eigenen Handlungsspielraum zu nutzen. Auch wenn es faktisch nach allen rationalen Kriterien nichts kostet , seiner eigenen Überzeugung zu folgen, sind die sozialen Kosten dafür oft erstaunlich hoch, und allzu oft eben zu hoch, um sie zu entrichten. Weil es hinsichtlich der sozialen Kosten viel günstiger ist, das Erwartbare zu tun, tun alle in der Regel das Erwartbare, und deshalb geschieht so selten das Unerwartete. Das Problem beginnt ja schon da, wo man nicht immer wieder in Restaurants das italienische, französische oder überhaupt auswärtige Mineralwasser zurückweisen will, weil das regelmäßig Erklärungsbedarf mit sich bringt, die Kellner nervt, andere Anwesende womöglich auch. Wieder gilt: Grundsätzlich bedeutet Einverstandensein Entlastung; Nichteinverstandensein bedeutet Belastung, erhöhten Aufwand. Das muss man sich zumuten wollen und können, wenn man seinen Handlungsspielraum tatsächlich nutzen will, um widerständig zu sein.
Vorhin habe ich schon einmal Günther Anders’ Begriff der »moralischen Phantasie« erwähnt, jene Phantasie, die man braucht, um den Unterschied zwischen dem, was man herstellen, und dem, was man sich vorstellen kann, zu ermessen. Bezogen auf
Weitere Kostenlose Bücher