Selbst denken: Eine Anleitung zum Widerstand (German Edition)
konkrete Situationen, leistet die moralische Phantasie das Herunterbrechen der Erscheinungsformen unserer fremdversorgten, abstrakten Lebensverhältnisse ins Konkrete: Was hat mein Verhalten mit dem Verschwinden der Thunfische zu tun? Nach Günther Anders besteht moralische Phantasie »in dem Versuche, das ›Gefälle‹ zu überwinden, die Kapazität und Elastizität unseres Vorstellens und Fühlens den Größenmaßen unserer eigenen Produkte und dem unabsehbaren Ausmaß dessen, was wir anrichten können, anzumessen; uns also das Vorstellende und Fühlende mit uns als Machenden gleichzuschalten«. [162]
Unterzieht man sich der Mühe nicht, das prometheische Gefälle auszugleichen, das zwischen dem Zerstörungspotential unserer Lebenspraxis und unserem defizitären Vorstellungsvermögen besteht, sieht man nie, was das wirkliche Problem ist. Denn wir wissen ja, sind aber so installiert in unserer Komfortzone, dass uns noch die kleinste Bewegung aus ihr heraus nicht bloß als lästig, sondern als ganz und gar unmöglich erscheint. Moralische Phantasie bemüht die vorkonsumistischen Fähigkeiten zur Verantwortung, Gerechtigkeit, Sparsamkeit, Achtsamkeit, die das Leben unbequem machen. Ohne solche Fähigkeiten wird es schwer sein, jenseits der Komfortzone zurechtzukommen. Deshalb muss man sofort beginnen, sich in einer anderen Praxis zu üben. Günher Anders empfiehlt ganz in diesem Sinn » moralische Streckübungen« , » Überdehnungen seiner gewohnten Phantasie- und Gefühlsleistungen«.
Dieses Bild gefällt mir gut – denn wie bei jedem anderen Training wird man auch durch moralische Streckübungen erstaunlich schnell besser im Nichteinverstandensein. Eine Haltung fällt nicht vom Himmel, sie überkommt einen auch nicht. Man muss sie üben, und man sollte auch dabei eine gewisse Großzügigkeit gegenüber sich selbst haben; zu viel Anstrengung verengt den Blick, und es geht bei diesem Training ja um das Wahrnehmen von Handlungsspielräumen dort, wo andere keine sehen. Das braucht einen offenen Blick.
Moralische Streckübungen: Geht immer besser.
Politik und Geschichte
Aber genau hier fängt das Politische an: mit dem Nichteinverstandensein, das zwei Konsequenzen nach sich zieht. Erstens: Man muss weiter denken, wenn man sich erlaubt hat, selbst zu denken. Zweitens: Es wird unbequem. Aber: Habe ich Adorno, Arendt, Elias, Foucault, Goffman, Habermas, Mead und Marx und noch reichlich mehr gelesen und an Studierende weiterzugeben versucht, um es bequem zu haben? Oder war aus dem Privileg, studiert und gelehrt haben zu dürfen, nicht vielmehr die Verpflichtung abzuleiten, zu versuchen, die Welt nicht nur besser zu verstehen, sondern auch besser zu machen? Ungefähr so wie im letzten Satz habe ich als Oberstufenschüler gedacht und auch noch als Student. Später nicht mehr. Da half mir meine zertifizierte wissenschaftliche Reflexionsfähigkeit, das soziale und politische Geschehen so komplex zu finden, dass einfache Gedanken nie in Konsequenzen münden konnten. Der intellektuell aufgerüstete Durchblick erlaubte es mir, unpolitisch zu werden, genauso wie den meisten meiner akademisch hochdekorierten Kolleginnen und Kollegen.
Wissen kann durchaus als Denkhindernis wirken: Man kann so viel wissen oder sich auf so hohem Reflexionsniveau aufhalten, dass man unfähig wird, die Wissensbestände noch zu sortieren und, vor allem, auf etwas zu beziehen. (Die Kontrollfrage ist immer: Was weiß ich, wenn ich das weiß? Viele Geisteswissenschaftler, und besonders angehende, haben Schwierigkeiten, auf diese Frage zu antworten. In der Regel finden sie sie ziemlich überraschend.) Aber das Phänomen ungebundenen Wissens beschränkt sich keineswegs auf den akademischen Betrieb – hier führt er nur zu einer Form von Berufsunfähigkeit, die nicht weiter auffällt.
Spätestens mit dem auf Mausklick hin verfügbaren kompletten Weltwissen ist die Unterscheidung generell schwierig geworden, was man mit welchem Wissensbestand warum anfangen soll. Eine Information scheint so gut oder so schlecht wie die andere, und es wird gleichgültig, ob die eine auf jahrelanger universitärer Forschung basiert, das heißt auf einem kodifizierten Weg der Wissenserzeugung, und die andere auf irgendetwas privat Drauflosgedachtem. Im Internet werden alle Informationen tendenziell gleichwertig, verlieren das qualitative Gefälle, das eigentlich zwischen ihnen besteht. Die unvorstellbare Daten- und Informationsflut, die alles Wissen der Welt von
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