Selbst ist der Mensch
hinaus. Im Spätstadium der Alzheimer-Krankheit stellt sich bei Patienten, die ausreichend medizinisch versorgt und gepflegt werden und deshalb am längsten überleben, ein mehr oder weniger vegetativer Zustand ein. Ihre Verbindung zur Umwelt ist so stark reduziert, dass sie Personen mit akinetischem Mutismus ähneln. Die Patienten interagieren immer weniger mit ihrer physischen und sozialen Umwelt und reagieren auf immer weniger Reize. Ihre Emotionen sind gedämpft. Ihr Verhalten ist durch einen abwesenden, antriebslosen, leeren, unkonzentrierten, schweigenden Blick gekennzeichnet.
Wie lässt sich diese letzte Wendung im Verlauf der Alzheimer-Krankheit erklären? Eine definitive Antwort kann man nicht geben, denn während der jahrelangen Erkrankung bilden sich im Gehirn mehrere pathologisch verän-derte Stellen, und diese Veränderungen beschränken sich nicht auf die neurofibrillären Knäuel. Bis zu einem gewissen Grad scheint es sich aber um selektive Schäden zu handeln. Die bilderzeugenden Gehirnareale, genauer gesagt die frühen sensorischen Rindenfelder für Sehen und Hören, werden von der Krankheit ebenso wenig angegriffen wie die Felder der Großhirnrinde, die mit Bewegungen zu tun haben, sowie die Basalganglien und das Kleinhirn. Dagegen werden einige Regionen, die mit der Lebenssteuerung im Zusammenhang stehen und auf die das Protoselbst angewiesen ist, nach und nach immer stärker geschädigt. In diese Kategorie gehört nicht nur die Inselrinde, sondern, wie unsere Arbeitsgruppe nachweisen konnte, auch der Nucleus parabrachialis. 12 Und schließlich sind auch in anderen Gehirnteilen, die zahlreiche CD-Regionen enthalten, schwere Schäden zu erkennen. Zu der letzten Gruppe gehören vor allem auch die PMCs.
Abb. 9.6 . Oben die linke Hirnhälfte eines gesunden älteren Menschen (Schnitt durch die Mittellinie); die PMC-Region ist dunkler schattiert. Unten das Gehirn einer ungefähr gleich alten Person (Schnitt an derselben Stelle) mit der Alzheimer-Krankheit im fortgeschrittenen Stadium. Die dunkel schattierte PMC-Region ist stark geschrumpft.
Dass ich diesen Tatsachen besondere Aufmerksamkeit schenke, liegt daran, dass in den PMCs zu Beginn der Erkrankung vorwiegend neuritische Plaques auftreten, im Spätstadium dagegen ist die Ablagerung neurofibrillärer Knäuel die vorherrschende pathologische Veränderung. Diese Knäuel sind die Grabsteine einstmals gesunder Neuronen, auf die ich zuvor bereits angespielt habe. Ihr massenhaftes Auftreten in den PMCs legt die Vermutung nahe, dass die Funktionsfähigkeit dieser Region stark beeinträchtigt ist. 13
Wir waren uns bereits bewusst, dass in den PMCs, die wir damals einfach als »Cortex cingulatus posterior und Umgebung« bezeichneten, wichtige pathologische Veränderungen eintreten. Aber die wiederholte klinische Beobachtung, dass im Spätstadium der Alzheimer-Krankheit bei umgrenzten Schäden dieser Region Bewusstseinsstörungen auftreten, veranlassten mich im Zusammenhang mit ihrer eigenartigen anatomischen Lage zu der Frage, ob eine schwere Schädigung der PMCs der Tropfen sein könnte, der das Fass zum Überlaufen bringt. 14
Warum ist diese Region bei der Alzheimer-Krankheit ein Ziel der pathologischen Veränderungen? Dies könnte durchaus den gleichen Grund haben, den meine Kollegen und ich schon vor vielen Jahren anführten, um bei der gleichen Krankheit die Beteiligung im mittleren Bereich der Schläfenlappen zu erklären. 15 Bei normalem Gesundheitszustand stellen die entorhinale Rinde und der Hippocampus ihre Tätigkeit nie ein. Sie arbeiten Tag und Nacht und unterstützen die Verarbeitung von Tatsachenerinnerungen, indem sie Gedächtnisaufzeichnungen in Gang setzen und konsolidieren. Entsprechend würde eine lokale Schädigung der Zellen, wie sie mit stärkerer Abnutzung einhergeht, unter den kostbaren Neuronen dieser Region ihren Tribut fordern. Die gleiche Überlegung würde im Wesentlichen auch auf die PMCs zutreffen, die ja bei verschiedenen mit dem Selbst zusammenhängenden Prozessen ebenfalls nahezu ununterbrochen tätig sind. 16
Insgesamt liegen bei Patienten, die im Spätstadium der Alzheimer-Krankheit an offenkundigen Bewusstseinsstörungen leiden, unverhältnismäßig große Schädigungen der Neuronen vor, und zwei Gehirnareale, deren Unversehrtheit die Voraussetzung für ein normales Bewusstsein ist, funktionieren nicht mehr richtig: die PMCs und das Tegmentum des Hirnstamms. Mit der Interpretation dieser Tatsachen sollte
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