Selbst ist der Mensch
man vorsichtig sein, denn bei der Alzheimer-Krankheit sind auch andere Stellen in ihrer Funktion beeinträchtigt. Gleichzeitig wäre es aber töricht, diese Befunde nicht zu berücksichtigen.
Und wie steht es mit den Patienten selbst, deren Gehirngesundheit in diesem späten Krankheitsstadium einen weiteren Schlag erhält? Ich bin heute wie früher überzeugt, dass die neue Schädigung, so schmerzhaft sie sich für die Angehörigen der Betroffenen darstellt, für den Patienten selbst wahrscheinlich ein Segen ist. Patienten in diesem Spätstadium, deren Bewusstsein im beschriebenen Umfang beeinträchtigt ist, bemerken die verheerende Krankheit wahrscheinlich nicht mehr. Sie sind nur noch von ihrer äußeren Form her der Mensch, der sie früher waren, und sie verdienen unsere Liebe und Fürsorge bis zum bitteren Ende. Dankenswerterweise sind sie aber nun bis zu einem gewissen Grad von den Gesetzen von Schmerz und Leiden befreit, die für jene, die alles mit ansehen, nach wie vor gelten.
Koma, vegetativer Zustand und der Unterschied zum Locked-in-Syndrom Komapatienten reagieren mehr oder weniger überhaupt nicht auf Kommunikation aus der Außenwelt. Sie befinden sich in einem tiefen Schlaf, in dem häufig sogar die Atemtätigkeit anormal klingt. Sie führen weder sinnvolle Gesten aus, noch äußern sie sinnvolle Geräusche, von Worten ganz zu schweigen. Von den entscheidenden Bestandteilen des Bewusstseins, die ich in Kapitel 8 aufgeführt habe, ist kein einziger zu erkennen. Der Wachzustand ist mit Sicherheit nicht vorhanden, und nach allem, was zu beobachten ist, kann man davon ausgehen, dass auch Geist und Selbst verschwunden sind.
Wenn ein Patient im Koma liegt, ist häufig der Hirnstamm geschädigt, und manchmal ist von der Schädigung auch der Hypothalamus betroffen. Die Ursache ist in den meisten Fällen ein Schlaganfall. Wir wissen, dass sich der Schaden im hinteren Teil des Hirnstamms, dem Tegmentum, befinden muss, und zwar insbesondere in seiner oberen Schicht. Dort liegen Gehirnkerne, die an der Lebenssteuerung mitwirken, es handelt sich aber nicht um jene, die für die Aufrechterhaltung von Atmung und Herztätigkeit unentbehrlich sind. Mit anderen Worten: Betrifft der Schaden auch die unteren Schichten des Tegmentums, ist nicht das Koma, sondern der Tod die Folge.
Tritt der Schaden im vorderen Teil des Hirnstamms auf, kommt es nicht zum Koma, sondern zum Locked-in-Syndrom, einem schrecklichen Zustand, in dem der Patient vollkommen bei Bewusstsein, aber auch nahezu vollständig gelähmt ist. Kommunizieren kann er nur durch Blinzeln, manchmal nur mit einem Auge, manchmal auch nur durch die Aufwärtsbewegung eines Auges. Die Patienten sehen aber ganz genau, was sich vor ihren Augen befindet, und können demnach auch lesen. Ebenso können sie gut hören und die Welt in allen Einzelheiten wahrnehmen. Sie befinden sich in einem nahezu vollständigen Gefängnis; nur durch die Abstumpfung der emotionalen Hintergrundreaktionen wird aus einer entsetzlichen eine schmerzhafte, aber gerade noch erträgliche Situation.
Von den einzigartigen Erlebnissen solcher Patienten wissen wir durch einige diktierte Berichte, die von intelligenten, aufmerksamen Betroffenen mit viel Mut und der Hilfe von Experten aufgezeichnet wurden. Eigentlich wurden die Berichte nicht diktiert, sondern »geblinzelt« – ein Blinzeln je Buchstabe. Früher hielt ich die Lou-Gehring-Krankheit (auch amyotrophe Lateralsklerose genannt) für die grausamste neurologische Erkrankung. Bei dieser Krankheit, einem Gehirnverfallsleiden, verlieren die Patienten ebenfalls bei vollem Bewusstsein allmählich die Fähigkeit, sich zu bewegen, zu sprechen und schließlich auch zu schlucken. Als ich dann aber zum ersten Mal einen Patienten mit dem Locked-in-Syndrom sah, wurde mir klar, dass dies noch schlimmer ist. Die beiden besten Bücher von solchen Betroffenen sind klein und einfach, aber menschlich bereichernd. Eines davon stammt von Jean-Dominique Bauby und diente als Vorlage für einen überraschend realitätsnahen Film mit dem Titel Schmetterling und Taucherglocke . Die Regie führte der Maler Julian Schnabel. Er bietet Laien eine gute Dokumentation der Krankheit. 17
Das Koma geht häufig in den etwas weniger schweren vegetativen Zustand über. Der Patient ist immer noch bewusstlos, aber wie zuvor bereits erwähnt, unterscheidet sich dieser Zustand in zwei Punkten vom Koma. Erstens wechseln die Patienten zwischen Schlaf und Wachzustand, und wenn
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