Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
Vom Netzwerk:
auszugleichen. Solche Störungen zeugen davon, dass das Kern-Selbst-System in der Hierarchie zuerst kommt und dass das gesamte System des autobiografischen Selbst von ihm abhängig ist. Das ist eine wichtige Feststellung, denn das Umgekehrte gilt nicht: Das autobiografische Selbst kann trotz eines ansonsten intakten Kern-Selbst beeinträchtigt sein.
    Wenn der größte Teil der Schäden bei einem Koma oder einem persistierenden vegetativen Zustand nicht den Hirnstamm betrifft, sondern die Großhirnrinde, den Thalamus oder die Verbindung dieser Strukturen mit dem Hirnstamm, wird das Kern-Selbst unter Umständen nicht zerstört, sondern nur funktionsunfähig. Dies ist die Erklärung, warum sich in manchen solchen Fällen ein Fortschritt in Richtung eines »Minimalbewusstseins« einstellt und sich manche unbewussten, mit dem Geist zusammenhängenden Vorgänge erholen. Akinetischer Mutismus und der nach einem epileptischen Anfall einsetzende Automatismus verursachen reversible Störungen des Kern-Selbst-Systems und anschließend auch eine Veränderung im System des autobiografischen Selbst. Manche angemessenen Verhaltensweisen sind vorhanden und lassen, obwohl sie automatisch ablaufen, darauf schließen, dass die Geistesprozesse keineswegs beseitigt sind.
    Wenn Störungen des autobiografischen Selbst bei einem ansonsten intakten Kern-Selbst-System eigenständig auftreten, liegt die Ursache in irgendeiner Gedächtnisstörung, einer erworbenen Amnesie. Die wichtigste Ursache der Amnesie ist die gerade erörterte Alzheimer-Krankheit, andere sind eine Virus-Enzephalitis oder akute Anoxie (Sauerstoffmangel im Gehirn), die bei einem Herzstillstand eintreten kann. Zu einer Amnesie gehört eine erhebliche Beeinträchtigung der einzigartigen Erinnerungen, die sich mit der eigenen Vergangenheit und den Plänen für die Zukunft beschäftigen. Wie nicht anders zu erwarten, schwindet bei Patienten mit Schäden in Hippocampus oder entorhinaler Rinde, bei denen die Fähigkeit zum Aufbau neuer Erinnerungen gestört ist, nach und nach der Geltungsbereich des autobiografischen Selbst, weil neue Ereignisse in ihrem Leben nicht mehr ordnungsgemäß aufgezeichnet und in die Biografie aufgenommen werden. In einer noch schlimmeren Situation sind Patienten, bei denen die Schädigung des Gehirns nicht nur den Hippocampus und die entorhinale Rinde betrifft, sondern auch die Regionen im Umfeld der entorhinalen Rinde und darüber hinaus im vorderen Teil des Schläfenlappens. Solche Patienten scheinen völlig bei Bewusstsein zu sein – die Tätigkeit ihres Kern-Selbst ist intakt – und sind sich sogar ihrer Erinnerungsstörung bewusst. Sie können aber ihre Biografie und die damit zusammenhängenden zwischenmenschlichen Informationen nur noch in vermindertem Ausmaß abrufen. Das Material, aus dem ein autobiografisches Selbst zusammengesetzt werden kann, ist verarmt – entweder weil es aus Aufzeichnungen der Vergangenheit nicht ans Licht geholt werden kann oder weil alles, was ans Licht geholt wird, nicht ordnungsgemäß koordiniert und/oder an das System des Protoselbst weitergeleitet wird. Ein extremer Fall ist der des Patienten B., dessen biografische Erinnerungen sich im Wesentlichen auf seine Kindheit beschränken und sehr schematisch sind. Er weiß, dass er verheiratet war und zwei Söhne hat, besitzt aber keine konkreten Kenntnisse über seine Angehörigen und erkennt sie weder auf Fotos noch bei persönlichen Begegnungen. Sein autobiografisches Selbst ist schwer beeinträchtigt. Bei Clive Wearing dagegen, einem anderen bekannten Patienten mit Amnesie, ist das biografische Erinnerungsvermögen weitaus besser erhalten. Er hat nicht nur ein normales Kern-Selbst, sondern auch ein robustes autobiografisches Selbst. Warum ich dieser Ansicht bin, erklärt ein Absatz aus einem Brief, den seine Frau Deborah Wearing mir schrieb:
    Er kann ungefähr die Einrichtung seines Zimmers aus Kindertagen beschreiben, er weiß, dass er schon in jungen Jahren im Erdington Parish Choir gesungen hat, er erinnert sich nach eigenen Angaben daran, wie er während des Krieges in Birmingham im Bunker saß und den Lärm der Bomben hörte. Er kennt eine Reihe bruchstückhafter Tatsachen aus seiner Kindheit, über seine Eltern und seine Geschwister, und er kann seine Biografie als Erwachsener skizzieren: sein College in Cambridge, wo er dem Schulchor angehörte, wo er arbeitete, die London Sinfonietta, die Musikabteilung der BBC, seine Karriere als Dirigent,

Weitere Kostenlose Bücher