Selbst ist der Mensch
Musikwissenschaftler und Musikproduzent (so wie früher als Sänger). Aber wie Clive einem immer erklärt, kennt er zwar die vagen Umrisse, hat aber »alle Einzelheiten vergessen«.
Zu echten, sinnvollen Gesprächen ist Clive in letzter Zeit besser in der Lage als in den ersten zehn Jahren, als er völlig verängstigt und wütend war. Er hat ein gewisses Bewusstsein für das Verstreichen der Zeit, denn er spricht von seinem Onkel und seinen Eltern in der Vergangenheitsform (sein Onkel starb 2003; die Nachricht, dass er gestorben sei, regte ihn sehr auf, da sie sich sehr nahe standen, aber ich erinnere mich nicht daran, dass er seither von Onkel Geoff noch einmal in der Gegenwart gesprochen hätte). Wenn er abschätzen soll, wie lange er schon krank ist, nennt er mindestens 20 Jahre (in Wirklichkeit sind es 25), und eine ungefähre Vorstellung davon hatte er immer. Er hat wiederum nicht das Gefühl, es zu wissen, aber wenn er raten soll, trifft er es in der Regel.
Ein weiterer pathologischer Zustand, den man auf eine selektive Störung des autobiografischen Selbst zurückführen kann, ist die sogenannte Anosognosie. Nach der – meist durch einen Schlaganfall verursachten – Schädigung einer Region in der rechten Hirnhälfte, zu der auch die somatosensorischen und motorischen Rindenfelder gehören, leiden die Patienten an einer offenkundigen Lähmung der linken Körperhälfte und insbesondere des Armes. Dennoch »vergessen« sie immer wieder, dass sie gelähmt sind. Ganz gleich, wie oft man ihnen sagt, dass sie den linken Arm nicht bewegen können, sie behaupten auf Nachfragen stets mit ehrlicher Überzeugung, er bewege sich. Sie integrieren die Informationen über die Lähmung nicht in den Ablauf ihrer Lebensgeschichte. Ihre Biografie wird im Hinblick auf solche Tatsachen nicht aktualisiert, obwohl sie beispielsweise wissen, dass sie einen Schlaganfall erlitten haben und ins Krankenhaus gebracht wurden. Dieses buchstäbliche Vergessen einer offenkundigen Realität ist die Ursache ihrer scheinbaren Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Gesundheitszustand und ihrer fehlenden Motivation, an der so dringend notwendigen Rehabilitation mitzuarbeiten.
Hinzufügen muss ich, dass bei Patienten mit einer entsprechenden Schädigung der linken Gehirnhälfte niemals eine Anosognosie auftritt. Mit anderen Worten: Der Mechanismus, mit dem wir unsere Biografie im Hinblick auf das Muskel-Skelett-System unseres Körpers aktualisieren, erfordert die Gesamtheit der somatosensorischen Rindenfelder, die in der rechten Gehirnhälfte angesiedelt sind.
Krampfanfälle, die im gleichen System auftreten, können einen bizarren, glücklicherweise aber nur vorübergehenden Zustand hervorrufen: die Asomatognosie. Bei solchen Patienten bleiben ein Gespür für das Selbst und bestimmte Aspekte der Wahrnehmung innerer Organe erhalten, aber sie sind für kurze Zeit nicht in der Lage, jene Aspekte ihres Körpers wahrzunehmen, die mit Muskeln und Skelett zu tun haben.
Noch eine letzte Anmerkung zur pathologischen Veränderung des Bewusstseins. Kürzlich wurde die Vermutung geäußert, die Inselrinde sei der Ausgangspunkt für die bewusste Wahrnehmung von Gefühlszuständen und demnach auch für das Bewusstsein. 20 Aus einer solchen Hypothese müsste man folgern, dass eine beidseitige Schädigung der Inselrinde verheerende Bewusstseinsstörungen nach sich zieht. Aus unmittelbarer Beobachtung wissen wir aber, dass dies nicht der Fall ist: Patienten, bei denen die Inselrinde beidseitig geschädigt ist, besitzen ein normales Kern-Selbst und einen vollständig aktiven, bewussten Geist.
10. Zusammenbau der Einzelteile
Eine Zusammenfassung
Jetzt ist es an der Zeit, die scheinbar ganz unterschiedlichen Tatsachen und Hypothesen zu Gehirn und Bewusstsein, die ich in den vorangegangenen drei Kapiteln vorgestellt habe, zusammenzuführen. Dazu möchte ich zunächst eine Reihe von Fragen behandeln, die dem Leser wahrscheinlich mittlerweile durch den Kopf gehen.
Angenommen, das Bewusstsein ist nicht in einem einzigen Gehirnzentrum angesiedelt: Sind bewusste Geisteszustände dann vorwiegend in bestimmten Gehirnarealen verankert, in anderen dagegen weniger? Hierauf antworte ich mit einem klaren Ja. Nach meiner Überzeugung werden die Bewusstseinsinhalte, zu denen wir Zugang haben, vor allem im Bilderraum der frühen Rindenfelder und im oberen Hirnstamm zusammengestellt, die gemeinsam den »Bühnenraum« des Gehirns bilden. Was aber in diesem Raum
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