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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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fortlaufenden Schauspiels, das unser bewusster Geist ist. 6
    Die Zusammenstellung der Bewusstseinsshow ist ein Gemeinschaftsunternehmen. Deshalb wäre es unangemessen, einen einzelnen Partner herauszugreifen. Wir können die autobiografischen Aspekte des Selbst, die das Bewusstsein des Menschen in so starkem Maße definieren, nicht erzeugen, ohne auf die üppige Fülle der Konvergenz-Divergenz-Regionen zurückzugreifen, die die Neuroanatomie und Neurophysiologie der Hirnrinde beherrschen. Eine Autobiografie könnte nicht entstehen ohne die entscheidenden Beiträge des Hirnstamms zum Protoselbst, ohne die unverzichtbare Zusammenarbeit des Hirnstamms mit dem übrigen Körper oder ohne die das ganze Gehirn erfassende rekursive Integration, die der Thalamus beisteuert.
    Aber auch wenn wir die Gemeinschaftsarbeit dieser Hauptbeteiligten zur Kenntnis nehmen müssen, sollte man Vorstellungen gegenüber skeptisch sein, welche anstelle der Spezifität der beteiligten Komponenten eine funktionell unscharfe, auf das ganze Gehirn ausgeweitete Neuronentätigkeit betonen. Was das Fundament im Gehirn angeht, ist der bewusste Geist zweifellos globalisiert. Dennoch haben wir dank der neuroanatomischen Forschungsansätze gute Aussichten, mehr über die relativen Beiträge einzelner Gehirnteile zu dem Gesamtprozess herauszufinden.

Das anatomische Nadelöhr hinter dem bewussten Geist
     
    Die drei gerade skizzierten Hauptteile und ihre räumliche Verteilung besagen etwas über anatomische Proportionen und Funktionsverwandtschaften, die man nur aus Sicht der Evolution erklären kann. Man braucht kein Neuroanatom zu sein, damit einem das seltsame Missverhältnis zwischen der Größe der Großhirnrinde des Menschen und der seines Hirnstamms auffällt.
    Der Grundbauplan des Hirnstamms geht, von der Anpassung an die Körpergröße abgesehen, im Wesentlichen auf die Zeit der Reptilien zurück. Mit der Großhirnrinde des Menschen dagegen verhält es sich ganz anders. Sie hat sich bei den Säugetieren ungeheuer erweitert, und zwar nicht nur in der Größe, sondern insbesondere bei den Primaten auch in ihrem Aufbau.
    Da der Hirnstamm seine Funktion der Lebenssteuerung so gut beherrscht, war er über lange Zeit der Empfänger und die lokale Verarbeitungsinstanz für die Informationen, die zur Repräsentation des Körpers und zur Steuerung seiner Lebensprozesse notwendig waren. Als er bei Tierarten, die nur eine sehr kleine oder gar keine Hirnrinde besaßen, diese uralte, wichtige Funktion erfüllte, entwickelte sich in ihm auf dem Weg über das Protoselbst und die Mechanismen des Kern-Selbst auch der Apparat für grundlegende Geistesprozesse und sogar für Bewusstsein. Diese Funktionen erfüllt der Hirnstamm auch heute noch bei den Menschen. Andererseits schuf die Großhirnrinde mit ihrer größeren Komplexität die Voraussetzungen für eine detaillierte Bilderproduktion, eine erweiterte Gedächtniskapazität, Vorstellungskraft, Vernunft und schließlich auch Sprache. Hier liegt das große Problem: Trotz der anatomischen und funktionellen Ausweitung der Großhirnrinde wurden die Funktionen des Hirnstamms in der Rindenstruktur nicht noch einmal angelegt. Die Folge dieser ökonomischen Arbeitsteilung ist eine fatale, vollständige gegenseitige Abhängigkeit von Hirnstamm und Großhirnrinde. Sie sind zur Kooperation gezwungen .
    In der Evolution des Gehirns ergab sich also ein größeres anatomischfunktionelles Nadelöhr, aber wie nicht anders zu erwarten, wurde es von der natürlichen Selektion beseitigt. Angesichts der Tatsache, dass der Hirnstamm nach wie vor sowohl das gesamte Spektrum der Lebenssteuerung als auch die Grundlagen des Bewusstseins für das gesamte Nervensystem gewährleisten sollte, musste ein Weg gefunden werden, wie der Hirnstamm die Großhirnrinde beeinflussen konnte und – ebenso wichtig – wie auch die Tätigkeit der Großhirnrinde Rückwirkungen auf den Hirnstamm haben konnte. Entscheidend war das natürlich vor allem, als es um den Aufbau des Kern-Selbst ging. Umso wichtiger ist das, wenn man daran denkt, dass die meisten äußeren Objekte nur in der Großhirnrinde als Bilder existieren und im Hirnstamm nicht vollständig abgebildet werden können.
    An dieser Stelle springt der Thalamus ein und schafft die Möglichkeit für eine Anpassung. Er sorgt dafür, dass Signale aus dem Hirnstamm auf weite Gebiete der äußeren Hirnrinde verteilt werden. Die ungeheuer erweiterte Großhirnrinde leitet ihrerseits Signale sowohl

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