Selbst ist der Mensch
wandelten und dass die Menschen vor etwa 30 000 Jahren erstmals Höhlenmalereien, Skulpturen, Felszeichnungen, Metallgegenstände und Schmuck herstellten sowie möglicherweise auch Musik machten. Die Höhle von Chavet an der Ardèche ist vermutlich 32 000 Jahre alt, und vor 17 000 Jahren gab es mit der Höhle von Lascaux bereits eine Art Sixtinische Kapelle mit Hunderten von raffinierten Malereien und Tausenden von Zeichnungen, eine beeindruckende Mischung aus konkreten und abstrakten Darstellungen. Hier war ganz offensichtlich ein Geist am Werk, der Symbole verarbeiten konnte. Den genauen Zusammenhang zwischen der Entstehung der Sprache, der explosionsartigen Zunahme der künstlerischen Ausdrucksfähigkeit und einer hoch entwickelten Werkzeugherstellung, wie sie für den Homo sapiens charakteristisch sind, kennt man nicht. Wir wissen aber, dass die Menschen bereits seit Zehntausenden von Jahren komplizierte Bestattungsrituale vollzogen, die eine besondere Behandlung der Toten und eine Entsprechung zu Grabsteinen voraussetzten. Man kann sich kaum vorstellen, dass solche Verhaltensweisen ohne eine explizite Sorge um das Leben entstanden sein könnten, ohne einen ersten Versuch, das Leben zu interpretieren und ihm einen Wert zuzumessen, der natürlich emotional, aber auch intellektuell war. Und dass Besorgnis oder Interpretationen ohne ein robustes Selbst entstehen, ist unvorstellbar.
Einige handfeste Belege liefert die Entwicklung der Schrift vor ungefähr 5000 Jahren, und zu der Zeit, als Homers Epen entstanden – die wahrscheinlich weniger als 3000 Jahre alt sind –, besaß der Geist der Menschen zweifellos ein autobiografisches Selbst. Dennoch sympathisiere ich mit der Behauptung von Julian Jaynes, wonach sich in dem relativ kurzen Zeitraum zwischen den Ereignissen, über die in der Ilias berichtet wird, und den Vorgängen in der Odyssee im Geist der Menschen etwas Folgenschweres abspielte. 13 Als sich immer mehr Wissen über die Menschen und das Universum ansammelte, könnte sich durch fortgesetzte Reflexion durchaus die Struktur des autobiografischen Selbst verändert haben, was zu einer engeren Kopplung relativ weit entfernter Aspekte der geistigen Verarbeitung führte. Die Koordination der Gehirntätigkeit, die anfangs von Wertvorstellungen und dann von Vernunft vorangetrieben wurde, wirkte sich nun zu unserem Vorteil aus. Aber wie dem auch sei: Das Selbst, das in meiner Vorstellung zur Rebellion in der Lage ist, ist eine relativ neue Entwicklung; sein Alter liegt in der Größenordnung von wenigen Jahrtausenden, nach den Maßstäben der Evolution ist es also erst vor einem Augenblick entstanden. Dieses Selbst greift auf Eigenschaften des menschlichen Gehirns zurück, die wir aller Wahrscheinlichkeit nach in der langen Phase des Pleistozäns erworben haben. Es ist auf die Fähigkeit des Gehirns angewiesen, umfangreiche Gedächtnisinhalte nicht nur von motorischen Fähigkeiten festzuhalten, sondern auch von Tatsachen und Ereignissen, insbesondere von persönlichen Tatsachen und Ereignissen, die das Gerüst von Biografie, Persönlichkeit und individueller Identität bilden. Es ist abhängig von der Fähigkeit, Gedächtnisinhalte in einem Raum des Gehirns, der zum Wahrnehmungsraum parallel ist, zu rekonstruieren und zu manipulieren – ein »Offline-Speicher«, in dem die Zeit bei einer Verzögerung ausgesetzt werden kann und Entscheidungen von der Tyrannei der unmittelbaren Reaktion befreit werden. Ebenso ist es abhängig von der Fähigkeit des Gehirns, nicht nur geistige Repräsentationen hervorzubringen, die sklavisch die Realität nachbilden, sondern auch Repräsentationen, die Handlungen, Objekte und Individuen symbolisch wiedergeben. Das rebellische Selbst ist auf die Fähigkeit des Gehirns angewiesen, geistige Zustände und insbesondere Gefühlszustände mit Gesten von Körper und Händen, aber auch mit der Stimme in Form von Gesang und Sprache mitzuteilen. Und schließlich ist es abhängig von der Erfindung externer Erinnerungssysteme, die parallel zu denen im einzelnen Gehirn tätig sind; damit meine ich bildliche Darstellungen durch erste Gemälde, Schnitzereien und Skulpturen sowie Werkzeuge, Schmuck, Grabstätten und – lange nach der Entstehung der Sprache – schriftliche Aufzeichnungen, die sicher bis vor ganz kurzer Zeit die wichtigste Form externer Erinnerungen waren.
Wenn das autobiografische Selbst auf der Grundlage des Wissens tätig werden kann, das in die Gehirnschaltkreise eingeprägt
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