Selbst ist der Mensch
ist oder in Aufzeichnungen auf Stein, Ton oder Papier festgehalten wurde, sind die Menschen in der Lage, mit ihren individuellen biologischen Bedürfnissen auf die gesammelte Erfahrung zurückzugreifen. Damit beginnt ein langer Prozess des Suchens, der Reflexion und der Reaktion, der während der gesamten überlieferten Menschheitsgeschichte in Mythen, Religionen und Künsten seinen Ausdruck findet, aber auch in den verschiedenen Strukturen, die man zur Lenkung des Sozialverhaltens erfunden hat: Moralsysteme, juristische Systeme, Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Technologie. Die letzten Konsequenzen des Bewusstseins traten in Form des Erinnerungsvermögens auf den Plan. Erinnerung, die durch den Filter des biologischen Werts gegangen ist und von der Vernunft Leben eingehaucht bekam.
Die Folgen eines reflexiven Selbst
Stellen wir uns einmal frühe Menschen zu einer Zeit vor, in der sich die Sprache als Kommunikationsmittel bereits durchgesetzt hatte. Stellen wir uns bewusste Individuen vor, deren Gehirne mit vielen der Fähigkeiten ausgestattet waren, die wir auch heute bei den Menschen finden: Sie suchten nach weitgehend denselben Dingen, nach denen auch wir heute streben – Nahrung, Sex, Obdach, Sicherheit, Trost. In diesem Umfeld war die Konkurrenz um Ressourcen ein beherrschendes Problem, es kam häufig zu Konflikten, und Kooperation war lebensnotwendig. Die Richtschnur für das Verhalten bildeten Belohnung, Bestrafung und Lernen. Nehmen wir an, dass diese Menschen ein ähnliches Emotionsspektrum besaßen wie wir. Zweifellos gab es Zugehörigkeitsgefühle, Abscheu, Angst, Freude, Traurigkeit und Furcht, daneben auch Emotionen, die sich auf das Sozialverhalten auswirkten, wie Vertrauen, Scham, Schuldgefühle, Mitgefühl, Verachtung, Stolz, Ehrfurcht und Bewunderung. Und nehmen wir außerdem an, dass diese Menschen bereits von einer glühenden Neugier durchdrungen waren, die sowohl ihre physikalische Umwelt als auch die Lebewesen der eigenen Spezies und anderer Arten betraf. Wenn Studien aus dem 20. Jahrhundert, die an relativ isoliert lebenden Bevölkerungsgruppen durchgeführt wurden, dazu etwas aussagen können, waren sie ebenfalls neugierig auf sich selbst, und sie erzählten Geschichten über ihren Ursprung und ihr Schicksal. Welche Triebkräfte hinter der Neugier steckten, kann man sich relativ einfach ausmalen. Die frühen Menschen erlebten Zuneigung und Zugehörigkeit zu anderen, mit denen sie Bindungen eingingen, insbesondere zu ihren Partnern und Nachkommen; ebenso erlebten sie die Trauer, die sich einstellt, wenn solche Bindungen brechen, wenn sie Zeugen des Leidens anderer wurden oder ihnen selbst Leid widerfuhr. Sie erlebten aber auch Augenblicke der Freude und der Befriedigung oder wurden deren Zeugen, und sie spürten den Erfolg, der sich bei Unternehmungen wie Jagd, Partnerwerbung, der Sicherung von Unterkünften, Krieg oder der Aufzucht des Nachwuchses einstellte.
Das Drama der menschlichen Existenz und seine möglichen Kompensationen konnten allem Anschein nach erst dann systematisch entdeckt werden, als sich das Bewusstsein der Menschen in vollem Umfang entwickelt hatte – ein Geist mit einem autobiografischen Selbst, das in der Lage war, reflexives Denken und das Anhäufen von Wissen zu steuern. Letztlich kann man angesichts der mutmaßlichen intellektuellen Fähigkeiten der frühen Menschen wohl davon ausgehen, dass sie Fragen nach ihrem Platz im Universum stellten und dass diese Fragen ganz ähnlich waren wie das »Woher kommen wir?« und »Wohin gehen wir?«, das uns noch heute, viele Jahrtausende später, beschäftigt. Als es so weit war, wurde das rebellische Selbst erwachsen. Mythen entwickelten sich als Erklärung für das Leben der Menschen und seine Funktionsweise. Soziale Konventionen und Regeln wurden verfeinert und führten zu den Anfängen einer echten Ethik, die weiter gefasst und höher eingeordnet wurde als vormoralische Verhaltensweisen wie Verwandtenaltruismus und reziproker Altruismus, die in der Natur schon lange vor der Entstehung eines reflexiven Selbst vorhanden waren. Aus den Mythen heraus und um sie herum wurden religiöse Lehren geschaffen, die sowohl die Gründe für das Drama erklären als auch die neuen, zu seiner Linderung bestimmten Gesetze durchsetzen sollten. Kurz gesagt, verbesserte sich durch das reflexive Bewusstsein nicht nur die Erkenntnis über die Existenz, sondern es versetzte die bewussten Individuen auch in die Lage, ihren Zustand
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