Selbst ist der Mensch
ansatzweise zu interpretieren und etwas zu unternehmen.
Bei der Triebkraft, die hinter solchen kulturellen Entwicklungen steht, handelt es sich nach meiner Vermutung um den homöostatischen Impuls . Erklärungen, die sich ausschließlich auf die bedeutende Erweiterung der Kognitionsfähigkeiten eines größeren, klügeren Gehirns stützen, reichen als Erklärung für die außerordentlichen Entwicklungen der Kultur nicht aus. In dieser oder jener Form manifestiert sich in den kulturellen Entwicklungen das gleiche Ziel wie in der automatischen Homöostase, die ich in diesem Buch immer wieder erwähnt habe. Sie reagieren auf ein wahrgenommenes Ungleichgewicht im Lebensprozess und streben danach, es innerhalb der Beschränkungen, die von der Biologie des Menschen sowie von der physikalischen und sozialen Umwelt vorgegeben sind, zu korrigieren. Die Entwicklung vielschichtiger ethischer Regeln und Gesetze sowie die Entwicklung juristischer Systeme waren die Antwort auf die Wahrnehmung von Ungleichgewichten, die durch soziale Verhaltensweisen ausgelöst wurden und die einzelnen Menschen sowie die Gruppe gefährdeten. Die kulturellen Hilfsmittel, die als Reaktion auf ein solches Ungleichgewicht geschaffen wurden, zielten auf die Wiederherstellung des Gleichgewichts bei Individuen und innerhalb der Gruppe. Der Beitrag der wirtschaftlichen und politischen Systeme wie auch beispielsweise die Entwicklung der Medizin waren eine Antwort auf Funktionsstörungen, die sich im sozialen Umfeld einstellten und innerhalb dieses Umfelds eine Korrektur erforderten, damit sie die Lebenssteuerung der Individuen, aus denen die Gruppe bestand, nicht beeinträchtigten. Die Ungleichgewichte, von denen ich hier spreche, sind durch soziale und kulturelle Parameter definiert, und die Wahrnehmung eines solchen Ungleichgewichts erfolgt deshalb nicht auf subkortikalem Niveau, sondern auf der hohen Ebene des bewussten Geistes, gewissermaßen in der Stratosphäre des Gehirns. Diesen Prozess bezeichne ich zusammenfassend als »soziokulturelle Homöostase«. Aus der Sicht der Neuronen kann man sagen: Die soziokulturelle Homöostase hat ihren Ursprung auf der Ebene der Hirnrinde, die emotionalen Reaktionen auf das Ungleichgewicht beziehen aber sofort auch die grundlegende Homöostase mit ein und zeugen damit wieder einmal von der gemischten Lebenssteuerung des menschlichen Gehirns: Sie spielt sich auf hoher, dann auf niedriger, dann wieder auf hoher Ebene ab – ein schwankender Verlauf, der häufig mit dem Chaos liebäugelt und es dann doch knapp vermeidet. Bewusste Reflexion und die Planung von Handlungen bringen für die Regulation des Lebens neue Möglichkeiten mit sich, die über die automatische Homöostase hinausgehen und ihr übergeordnet sind – eine bemerkenswerte physiologische Neuerung. Bewusste Reflexion kann die automatische Homöostase sogar infrage stellen und abwandeln; sie kann als optimales Spektrum der Homöostase sogar ein höheres Niveau festlegen als das, das für das reine Überleben notwendig ist, eines, das noch stärker dem Wohlbefinden verpflichtet ist. Das in der Fantasie ausgemalte, erträumte, erwartete Wohlbefinden ist zu einem aktiven Motiv für das Handeln der Menschen geworden. Die soziokulturelle Homöostase kam als neues Funktionsniveau zum Lebensmanagement hinzu, die biologische Homöostase blieb dabei aber erhalten.
Mit bewusster Reflexion ausgestattet, erfanden Lebewesen, deren evolutionsbedingte Konstruktion sich um die Lebenssteuerung und das Streben nach homöostatischem Gleichgewicht drehte, Formen des Trostes für Leidende, Belohnungen für jene, die den Leidenden halfen, Strafen für diejenigen, die Schaden anrichteten, Verhaltensnormen mit dem Ziel, Schaden zu verhüten und das Gute zu fördern, und eine Mischung aus Bestrafung und Vorbeugung, aus Strafe und Lob. Dabei stellte sich das Problem, wie man alle diese Weisheiten verständlich, vermittelbar, überzeugend und durchsetzbar machen sollte – kurz: wie man dafür sorgt, dass sie hängenbleiben. Auch hier wurde eine Lösung gefunden. Diese Lösung hieß Geschichtenerzählen – eine Tätigkeit, die das Gehirn von Natur und von sich aus ausführt. Inneres Geschichtenerzählen hat unser Selbst geschaffen, und deshalb kann es nicht verwundern, dass es sich durch alle menschlichen Gesellschaften und Kulturen zieht. Ebenso sollte es uns nicht überraschen, dass soziokulturelle Handlungsanweisungen ihre Autorität von mythischen Wesen bezogen, die angeblich
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