Selbst ist der Mensch
gleich, sie hatten einen natürlichen Akzent, und die Akzente standen in einer zeitlichen Beziehung. Akzente konnten Rhythmen bilden, und bestimmte Rhythmen erzeugten Freude. Nun konnte die Dichtung ihren Anfang nehmen, und die Methode wirkte irgendwann zurück auf die musikalische und tänzerische Praxis.
Die Künste konnten erst entstehen, nachdem das Gehirn bestimmte geistige Eigenschaften erworben hatte, die aller Wahrscheinlichkeit nach ebenfalls über einen langen entwicklungsgeschichtlichen Zeitraum hinweg im Pleistozän entstanden. Für solche Eigenschaften gibt es viele Beispiele. Dazu gehören die emotionalen Freudenreaktionen auf bestimmte Formen und Farben, die in natürlichen Objekten vorhanden sind, sich aber auch auf von Menschen gemachte Gegenstände sowie als Körperschmuck anwenden lassen, und die erfreuten Reaktionen auf bestimmte Klangmerkmale und auf eine bestimmte Anordnung der Töne in Bezug auf Klangfarbe, Tonhöhe und Rhythmus. Ganz ähnlich verhält es sich mit der emotionalen Reaktion auf bestimmte Formen der räumlichen Organisation und auf Landschaften, in denen offene Panoramen und die Nähe zu Wasser und Pflanzen vorkommen. 16
Anfangs war Kunst möglicherweise für Künstler und Rezipienten ein Hilfsmittel zur Herstellung der Homöostase und ein Mittel der Kommunikation. Später gestaltete sich der Nutzen für den Künstler wie auch für das Publikum vielfältiger. Kunst wurde ein bevorzugtes Mittel zur Vermittlung von Informationen über Tatsachen und Emotionen, die für Individuen und Gesellschaft Bedeutung besaßen – dies zeigt sich in frühen epischen Gedichten, Theaterstücken und Skulpturen. Kunst wurde auch ein Mittel zum Nähren von Emotionen und Gefühlen, eine Funktion, die vor allem die Musik zu allen Zeiten hervorragend erfüllt hat. Nicht weniger wichtig war, dass Kunst zu einem Weg wurde, um den eigenen Geist und den anderer zu erkunden, ein Mittel zum Erproben bestimmter Lebensaspekte sowie zum Fällen ethischer Urteile und zum moralischen Handeln. Und da die Künste zutiefst in Biologie und Körper des Menschen verwurzelt sind, den Menschen aber auch in die größten Höhen von Denken und Fühlen erheben können, wurden sie letztlich zu einem Weg der homöostatischen Verfeinerung, den die Menschen idealisierten und zu erreichen strebten; damit wurden sie zum biologischen Gegenstück zur spirituellen Dimension des menschlichen Daseins.
Kurz gesagt, konnten sich die Künste in der Evolution durchsetzen, weil sie einen Überlebenswert hatten und zur Entwicklung einer Vorstellung von Wohlbefinden beitrugen. Sie halfen, soziale Gruppen zusammenzuschweißen, und förderten die soziale Organisation, sie unterstützten die Kommunikation, sie schufen einen Ausgleich zu emotionalen Ungleichgewichten, die durch Ängste, Wut, Sehnsucht und Trauer verursacht wurden – und wie man angesichts von Chauvet und Lascaux vermuten kann, setzten sie wohl auch den langen Prozess der »externen« Aufzeichnung des kulturellen Lebens in Gang.
Häufig wurde die Vermutung geäußert, die Kunst habe überlebt, weil sie den Künstler für potenzielle Partner oder Partnerinnen attraktiver machten; wir brauchen nur an Picasso zu denken, dann können wir zustimmend lächeln. Aber die Künste hätten vermutlich auch allein aufgrund ihres therapeutischen Wertes überlebt.
Die Künste waren ein unzureichender Ausgleich für das Leiden der Menschen, für unerreichtes Glück, für verlorene Unschuld; ausgleichend jedoch wirkten und wirken sie, als Gegengewicht zu Naturkatastrophen und dem Bösen, das Menschen tun. Sie sind eines der bemerkenswerten Geschenke des Bewusstseins an die Menschen.
Und worin besteht das wertvollste Geschenk des Bewusstseins an die Menschheit? Vielleicht in der Fähigkeit, auf dem Meer unserer Fantasie in die Zukunft zu reisen und das Schiff namens Selbst in einen sicheren, produktiven Hafen zu lenken. Dieses größte aller Geschenke hängt wieder einmal von der Schnittstelle zwischen Selbst und Gedächtnis ab. Die durch persönliche Gefühle geprägten Erinnerungen sind es, die es den Menschen erlauben, sich sowohl das individuelle Wohlbefinden als auch das gesamte Wohlergehen einer ganzen Gesellschaft vorzustellen und die Mittel und Wege zu erfinden, um dieses Wohlergehen zu erreichen und zu verbessern. Die Erinnerung ist dafür verantwortlich, dass das Selbst unaufhörlich in ein flüchtiges Hier und Jetzt gestellt wird, zwischen eine intensiv durchlebte
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