Selbst ist der Mensch
mehr Macht und Wissen besaßen als Menschen – Wesen, mit deren Existenz sich alle möglichen Notlagen erklären ließen und die mit ihrer Tätigkeit sowohl Beistand leisten als auch die Zukunft verändern konnten. Über die Himmel des Fruchtbaren Halbmonds oder das Walhall der Legende fanden solche Wesen auf faszinierende Weise Eingang in den Geist der Menschen.
Individuen und Gruppen, die mit ihrem Gehirn in der Lage waren, solche Handlungsanweisungen zu erfinden oder zur eigenen Verbesserung zu nutzen, waren in der Gesellschaft, in der sie lebten, so erfolgreich, dass die Strukturmerkmale dieser Gehirne individuell oder gruppenweise von der Selektion begünstigt wurden, so dass ihre Häufigkeit im Laufe der Generationen größer wurde. 14
Die Vorstellung, dass es zwei große Formen der Homöostase gibt – die grundlegende und die soziokulturelle – sollte nicht so verstanden werden, als sei Letztere ein rein »kulturelles« Konstrukt, während die Erstere »biologisch« ist. Biologie und Kultur stehen in einer engen Wechselbeziehung. Soziokulturelle Homöostase wird durch die Tätigkeit der vielen Geister geformt, deren zugehörige Gehirne anfangs auf bestimmte Weise und unter Leitung ganz bestimmter Genome aufgebaut wurden. Faszinierenderweise deutet immer mehr darauf hin, dass kulturelle Entwicklungen zu tiefgreifenden Wandlungen im Genom des Menschen führen können. Die Erfindung der Milchwirtschaft und die Tatsache, dass nun auch Milch zur Ernährung gehörte, führte zu Veränderungen in der Regulation der Gene, welche die Lactosetoleranz ermöglichen. 15
Nach meiner Vermutung steckt der gleiche homöostatische Impuls, der die Entwicklung der Mythen und Religionen vorantrieb, auch hinter der Entstehung der Künste: Sie wurde durch die gleiche intellektuelle Neugier und den gleichen Erklärungsdrang gefördert. Das mag paradox klingen angesichts der Tatsache, dass Freud die Künste für ein Gegengift gegen die religionsbedingten Neurosen hielt, aber ich meine es durchaus nicht ironisch. Tatsächlich könnten die gleichen Voraussetzungen zu beiden Entwicklungen führen. Wenn die Notwendigkeiten des Lebensmanagements einer der Gründe waren, warum Musik, Tanz, Malerei und Bildhauerei ursprünglich entstanden, waren die Fähigkeiten zu verbesserter Kommunikation und zur Organisation des Soziallebens zwei weitere nachhaltige Gründe, die den Künsten zusätzliches Beharrungsvermögen verliehen.
Schließen wir einmal einen Augenblick die Augen und stellen wir uns die Menschen längst vergangener Zeiten vor, vielleicht sogar Menschen aus einer Zeit, bevor die Sprache auf der Bildfläche erschien. Auch sie waren bereits von Geist durchdrungen und sich ihrer selbst bewusst, ausgestattet mit Emotionen und Gefühlen; sie nahmen wahr, was es heißt, traurig oder fröhlich zu sein, sich in Gefahr zu befinden oder in Sicherheit zu sein, sich über einen Gewinn zu freuen oder unter einem Verlust zu leiden, Lust oder Schmerzen zu empfinden. Wir stellen wir uns vor, wie sie diese Zustände, die in ihrem Geist vorhanden waren, ausdrückten. Vielleicht ließen sie Alarm- oder Begrüßungsrufe hören, Töne, die zur Versammlung riefen, Rufe der Freude oder der Trauer. Vielleicht summten sie, oder sie sangen sogar – der Stimmapparat der Menschen ist ein eingebautes Musikinstrument. Oder stellen wir uns vor, dass sie trommelten – der Brustkorb ist eine natürliche Trommel. Stellen wir uns das Trommeln als Mittel zur Konzentration des Geistes oder als Hilfsmittel der sozialen Organisation vor – die Trommel rief zur Ordnung oder zu den Waffen. Oder malen wir uns aus, wie das Blasen auf einer primitiven Knochenflöte als Mittel der Verzauberung oder Verführung, des Trostes oder der spielerischen Fröhlichkeit diente. Es war noch kein Mozart und auch nicht Tristan und Isolde , aber der Weg war gefunden. Träumen wir noch ein wenig weiter!
Bei der Geburt von Künsten wie Musik, Tanz und Malerei hatten die Menschen vermutlich die Absicht, Informationen über Gefahren und gute Gelegenheiten, über die eigene Traurigkeit oder Freude und auch über die Form des Sozialverhaltens an andere weiterzugeben. Aber parallel zur Kommunikation erzeugten die Künste auch einen homöostatischen Ausgleich. Hätten sie sich auch durchgesetzt, wenn dies nicht der Fall gewesen wäre? Das alles geschah noch vor der wundersamen Entdeckung, dass Menschen auch Wörter hervorbringen und zu Sätzen verbinden können. Nicht alle Töne klangen
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