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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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Kerne im oberen Hirnstamm hervor, die ein unverzichtbarer Bestandteil der Mechanismen zur Lebenssteuerung sind. Ursprüngliche Gefühle sind das Urbild aller anderen Gefühle. Ich werde in Teil III auf diesen Gedanken zurückkommen.

Die Herkunft einer Idee
     
    Auf die oben beschriebene Möglichkeit stieß ich erstmals vor vielen Jahren im Rahmen einer merk- und denkwürdigen Episode. An einem Sommernachmittag – ich arbeitete gerade im Institut – war ich von meinem Stuhl aufgestanden und ging quer durch mein Büro. Plötzlich fiel mir mein Kollege B. ein. Es gab keinen besonderen Grund, an ihn zu denken – ich hatte ihn in letzter Zeit nicht gesehen, musste nicht mit ihm sprechen, hatte nichts über ihn gelesen und hatte auch keinerlei Pläne, mich mit ihm zu treffen –, und doch war er plötzlich in meinem Kopf gegenwärtig und der Mittelpunkt meiner gesamten Aufmerksamkeit. Man denkt ständig an irgendwelche Menschen, aber hier war es anders; der Gedanke tauchte unerwartet auf, und das erforderte eine Erklärung. Warum dachte ich gerade jetzt an Dr. B?
    Fast augenblicklich erfuhr ich durch eine rasche Abfolge von Bildern, was ich wissen musste. Im Geist spielte ich meine Bewegungen noch einmal durch, und dabei wurde mir klar, dass ich mich für wenige Augenblicke auf die gleiche Art und Weise bewegt hatte wie mein Kollege B. Es hatte damit zu tun, wie ich meine Arme schwingen ließ und die Beine beugte. Nachdem ich nun entdeckt hatte, warum ich an ihn denken musste, konnte ich mir seinen Gang vor meinem geistigen Auge sehr deutlich ausmalen. Das Wichtige dabei ist aber, dass die visuellen Bilder, die ich mir machte, vom Bild meiner eigenen Muskeln und Knochen ausgelöst – oder besser: gestaltet – wurden: Meine Gliedmaßen übernahmen die charakteristischen Bewegungsmuster meines Kollegen. Kurz: Ich war gerade wie Dr. B. gegangen, ich hatte mein bewegtes Skelett in meinem eigenen Geist repräsentiert (genauer gesagt hatte ich ein somatosensorisches Bild erzeugt), und schließlich hatte ich mich an ein geeignetes visuelles Gegenstück zu diesem Bild meines Muskel-Skelett-Apparats erinnert, und dieses Bild erwies sich als das meines Kollegen.
    Während die Identität des Eindringlings geklärt wurde, ging mir ein faszinierender Aspekt des menschlichen Gehirns auf: Ich konnte mir die Bewegungen eines anderen zu eigen machen, ohne etwas dafür zu tun. (Jedenfalls beinahe: Als ich die Szene noch einmal durchspielte, fiel mir ein, dass B. kurz zuvor am Fenster meines Büros vorbeigegangen war. Ich hatte den Eindruck beinahe unbewusst verarbeitet und ihm so gut wie keine Aufmerksamkeit geschenkt.) Die repräsentierte Bewegung konnte ich in das zugehörige visuelle Bild umsetzen, und aus dem Gedächtnis konnte ich die Identität einer oder mehrerer Personen abrufen, zu denen die Beschreibung passte. Das alles zeugt von den engen Verbindungen zwischen einer tatsächlichen Körperbewegung, der Repräsentation dieser Bewegung unter den Gesichtspunkten von Bewegungsapparat und visuellem Eindruck, und den Erinnerungen, die man im Zusammenhang mit einem Aspekt dieser Repräsentation abrufen kann.
    Diese Episode, die ich später mit weiteren Beobachtungen und Überlegungen anreicherte, verhalf mir zu der Erkenntnis, dass unsere Verbindung zu anderen nicht nur über visuelle Bilder, Sprache und logische Rückschlüsse verläuft, sondern über etwas, das noch tiefer in uns verwurzelt ist: die Tätigkeiten, mit denen wir die Bewegungen anderer abbilden können. Wir können eine vierfache Übersetzung vornehmen: zwischen der tatsächlichen Bewegung, der somatosensorischen Repräsentation dieser Bewegung, der visuellen Repräsentation der Bewegung und den Erinnerungen. Für mich war die Episode wichtig für die Entwicklung der Vorstellung von körperlicher Simulation und ihre Anwendung in der Als-ob-Körperschleife.
    Gute Schauspieler bedienen sich natürlich ständig solcher Hilfsmittel, ob sie es wissen oder nicht. Wenn manche Könner ihres Faches bestimmte Persönlichkeiten in ihr Spiel einfließen lassen, bedienen sie sich dieser Fähigkeit, andere visuell und akustisch zu repräsentieren, und verleihen ihnen dann mit dem eigenen Körper eine Gestalt. Das meint man mit dem Ausfüllen einer Rolle, und wenn der Übertragungsprozess dann noch durch unerwartete, erfundene Details ausgeschmückt wird, erleben wir eine geniale Vorstellung.

Der Körper im Kopf
     
    Aus den zuvor genannten Tatsachen und Überlegungen ergibt

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