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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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Substrat für ein zusammengesetztes, an vielen Stellen produziertes Bild. 8
    Damit eine Verbindung zwischen dem Gefühlszustand und der Emotion hergestellt werden kann, müssen das verursachende Objekt sowie die zeitliche Beziehung zwischen seinem Auftauchen und der emotionalen Reaktion entsprechend berücksichtigt werden. Dies ist ein bemerkenswerter Unterschied zu den Abläufen beim Sehen, Hören oder Riechen. Da diese anderen Sinne auf die Außenwelt gerichtet sind, können die zugehörigen, kartenerzeugenden Regionen Tabula rasa machen und unendlich viele Muster aufbauen. Für die Stellen, die den Körper wahrnehmen, gilt das nicht: Sie sind ständig auf das Körperinnere gerichtet und Gefangene dessen, was das unendlich Gleiche des Körpers ihnen liefert. Das Gehirn mit seinem auf den Körper gerichteten Geist ist tatsächlich ein Gefangener des Körpers und seiner Signale.
    Der erste Weg zur Erzeugung von Gefühlen setzt also eine Körperschleife voraus, wie ich sie nenne. Es gibt aber noch mindestens zwei weitere Wege. Der eine hängt von der in Kapitel 4 vorgestellten Als-ob-Körperschleife ab. Wie der Name schon vermuten lässt, ist sie eigentlich ein Taschenspielertrick. Die Gehirnregionen, welche die typische Emotionskaskade in Gang setzen, können auch Körperkartierungsregionen wie der Inselrinde den Befehl erteilen, sich so verhalten, als hätte der Körper ihnen seinen emotionalen Zustand mitgeteilt. Mit anderen Worten: Die Auslöserregionen erteilen der Inselrinde den Befehl, sich bereit zu machen und ihre Impulse so zu konfigurieren, »als ob« sie Signale empfangen würden, die den emotionalen Zustand X beschreiben. Welchen Vorteil ein solcher Umgehungsmechanismus hat, liegt auf der Hand. Der Aufbau eines kompletten emotionalen Zustands nimmt immerhin beträchtliche Zeit in Anspruch und kostet viel wertvolle Energie. Warum also soll man nicht auf einem kürzeren Weg zum Ziel gelangen? Der Mechanismus entstand im Gehirn zweifellos genau wegen der damit verbundenen Zeit- und Energieersparnis, aber auch weil ein kluges Gehirn extrem faul ist. Wenn es weniger statt mehr tun kann, ergreift es immer diese Gelegenheit – eine minimalistische Philosophie, an der es mit religiösem Eifer festhält.
    Der Als-ob-Mechanismus hat nur einen Haken. Wie jede Simulation gleicht er dem Vorbild nicht völlig. Nach meiner Überzeugung sind Als-ob-Gefühlszustände uns allen sehr vertraut, und sie verringern sicher den Aufwand für unsere Emotionalität, aber es handelt sich bei ihnen nur um abgeschwächte Versionen der Emotionen, die aus der Körperschleife stammen. Als-ob-Zustände können sich einfach nicht wie die echten Körperschleifensystem-Gefühlszustände anfühlen, denn sie sind nicht das Echte, sondern nur eine Simulation. Außerdem ist es für die schwächeren Als-ob-Muster vermutlich schwieriger als für die normalen Körperschleifenzustände, mit den laufenden Mustern aus dem Körper zu konkurrieren.
    Der andere Weg zum Aufbau von Gefühlszuständen besteht darin, die Übertragung der Körpersignale an das Gehirn zu verändern. Durch natürliche schmerzstillende Vorgänge oder nach der Verabreichung von Medikamenten, die im Körper die Signalübertragung beeinträchtigen (Schmerzmittel, Betäubungsmittel), empfängt das Gehirn ein verzerrtes Bild vom tatsächlichen derzeitigen Körperzustand. In Angstsituationen, in denen sich das Gehirn nicht fürs Stehenbleiben, sondern für das Weglaufen entscheidet, koppelt der Hirnstamm bekanntermaßen einen Teil der Schaltkreise für die Schmerzübertragung ab – es ist ein wenig so, als würde man den Telefonstecker herausziehen. Das periaquäduktale Grau, das solche Reaktionen steuert, kann auch die Ausschüttung natürlicher Opiate in Gang setzen und genau die gleiche Wirkung hervorrufen wie ein Schmerzmittel: Schmerzsignale werden ausgeschaltet.
    Streng genommen, haben wir es hier mit einer Halluzination des Körpers zu tun: Was das Gehirn in seinen Karten aufzeichnet und was der bewusste Geist fühlt, entspricht nicht der wahrgenommenen Realität. Mit diesem Mechanismus spielen wir jedes Mal, wenn wir Wirkstoffe zu uns nehmen, die in der Übertragung oder der Kartierung von Signalen aus dem Körper eine Veränderung herbeiführen können. Alkohol hat diese Wirkung, ebenso Schmerz-und Narkosemittel sowie unzählige Suchtmittel. Eines ist offenkundig: Menschen fühlen sich zu solchen Substanzen nicht nur aus Neugier hingezogen, sondern weil sie Gefühle des

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