Selbst ist der Mensch
dass die mentale Wahrnehmung einer Tatsache jenen mentalen Affekt auslöst, den man als Emotion bezeichnet, und dass dieser Geisteszustand dann einen körperlichen Ausdruck findet. Meine These hingegen lautet, dass die körperlichen Veränderungen unmittelbar auf die WAHRNEHMUNG der aufregenden Tatsache folgen und dass unser Empfinden eben jener Veränderungen bei ihrem Auftreten die Emotion IST. 3
Dies schrieb James im Jahr 1884, einschließlich der Hervorhebung von Wahrnehmung und ist .
Wie wichtig dieser Gedanke ist, kann gar nicht genug betont werden. James stellte die traditionelle Reihenfolge der Abläufe im Emotionsprozess auf den Kopf und ordnete den Körper zwischen dem auslösenden Reiz und dem Erlebnis der Emotion ein. Es gab keinen »mentalen Affekt« mehr, der als Emotion bezeichnet wurde und »seinen körperlichen Ausdruck findet«. An seine Stelle trat die Wahrnehmung eines Reizes, die bestimmte körperliche Wirkungen hatte. Dies war ein kühner Gedanke, der aber durch die moderne Forschung in vollem Umfang unterstützt wird. Das Zitat wirft aber ein wichtiges Problem auf. Nachdem James unmissverständlich auf »unser Empfinden eben jener Veränderungen« Bezug nimmt, stiftet er dann mit seiner Behauptung, das Gefühl sei letztlich die Emotion, Verwirrung. Genau genommen verwechselt er damit Emotion und Gefühl. James verneint die Emotion als mentalen Affekt, der körperliche Veränderungen verursacht, und erkennt sie dann als mentalen Affekt wieder an, der durch das Empfinden der körperlichen Veränderungen entsteht – eine ganz andere Anordnung, als ich sie zuvor dargestellt habe. Ob es sich hier um eine unglückliche Wortwahl handelt oder ob es genau das ausdrückt, was James wirklich dachte, bleibt unklar. Wie dem auch sei: Meine Vorstellung, wonach Emotionen ein Programm für Handlungen sind, entspricht nicht James’ Ansicht, wie sie in seinem Text zum Ausdruck kommt; sein Begriff von Gefühlen stimmt mit meinem nicht überein. Seine Überlegung zum Mechanismus der Gefühle ist aber mehr oder weniger die gleiche, die auch ich unter dem Stichwort »Körperschleifensystem der Gefühle« vertrete. (James dachte nicht über einen Als-ob-Mechanismus nach, eine Fußnote in seinem Text legt aber die Vermutung nahe, dass er die Notwendigkeit eines solchen Mechanismus erkannte.)
Die Kritik, die James’ Theorie der Emotionen im 20. Jahrhundert erdulden musste, richtete sich zum größten Teil gegen die Wortwahl in diesem Abschnitt. Führende Physiologen wie Charles Serrington und Walter Cannon nahmen James’ Formulierungen wörtlich und gelangten zu dem Schluss, ihre experimentellen Befunde seien mit dem darin beschriebenen Mechanismus nicht vereinbar. Weder Serrington noch Cannon sollte Recht behalten, aber man kann ihnen ihre falsche Deutung nicht uneingeschränkt zum Vorwurf machen. 4
Andererseits gibt es durchaus stichhaltige Kritik an James’ Theorie der Emotionen. So ließ er beispielsweise die Beurteilung von Reizen völlig außen vor und beschränkte den kognitiven Aspekt der Emotionen auf die Wahrnehmung des Reizes sowie auf die körperlichen Vorgänge. Für James gab es nur die Wahrnehmung der aufregenden Tatsache (die meinem emotional kompetenten Reiz entspricht), und daraus folgten unmittelbar die körperlichen Veränderungen. Heute wissen wir, dass ein solcher Ablauf von der schnellen Wahrnehmung zur Auslösung von Emotionen zwar möglich ist, in der Regel sind aber bewertende Schritte eingeschoben: Der Reiz wird gefiltert und kanalisiert, während er seinen Weg durch das Gehirn nimmt und schließlich in die auslösende Region gelangt. Das Stadium der Bewertung kann sehr kurz sein und unbewusst ablaufen, aber es bedarf der Erwähnung. In dieser Hinsicht wird James’ Vorstellung zur Karikatur: Der Reiz drückt immer sofort auf den roten Knopf und löst die Explosion aus. Und was noch wichtiger ist: Die von einem emotionalen Zustand in Gang gesetzte Kognition beschränkt sich keineswegs auf Bilder des Reizes und der körperlichen Veränderungen, wie James es vermutet hätte. Wie wir erfahren haben, löst das Emotionsprogramm beim Menschen vielmehr auch bestimmte kognitive Veränderungen aus, welche die körperlichen Veränderungen begleiten. Wir können sie als späte Bestandteile der Emotion oder sogar als vorweggenommene, relativ klischeehafte Bestandteile des bevorstehenden Gefühls der Emotion auffassen. Dennoch schmälert keine dieser Einschränkungen in irgendeiner Form
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