Selbst ist der Mensch
bewusst wie der dabei ablaufenden Zwischenschritte. Wir bemerken nur die Folgen, beispielsweise einen Zustand des Wohlbefindens, Herzrasen, die Bewegung einer Hand, das Bruchstück eines in der Erinnerung auftauchenden Geräusches, die veränderte Version der momentanen Wahrnehmung einer Landschaft.
Unsere Erinnerungen an Dinge, an Eigenschaften von Dingen, an Menschen und Orte, an Ereignisse und Beziehungen, an Fähigkeiten, an Prozesse des Lebensmanagements – oder kurz gesagt: alle unsere Erinnerungen, die wir aus der Evolution ererbt und bei der Geburt mitbekommen oder später durch Lernen erworben haben – liegen in unserem Gehirn in Form von Dispositionen vor und warten darauf, zu expliziten Bildern oder Tätigkeiten zu werden. Unsere Wissensgrundlage ist implizit, verschlüsselt und unbewusst.
Dispositionen sind keine Wörter, sondern abstrakte Aufzeichnungen von Möglichkeiten. Auch die Grundlage für die Inszenierung von Wörtern oder Zeichen liegt in Form von Dispositionen vor, die erst später in Form von Bildern und Handlungen, beispielsweise beim Sprechen oder bei der Erzeugung von Zeichensprache, zum Leben erwachen. Auch die Regeln, nach denen wir Wörter und Zeichen zusammensetzen, also die Grammatik einer Sprache, werden in Form von Dispositionen festgehalten.
Das Wie und Wo von Wahrnehmung und Erinnerung
Die Wahrnehmung der meisten Objekte und Ereignisse – oder die Erinnerung an sie – ist abhängig von der Aktivität verschiedener Bilder erzeugender Gehirnregionen, und häufig sind daran auch Gehirnteile beteiligt, die mit Bewegungen zu tun haben. Dieses höchst dezentrale Aktivitätsmuster spielt sich im Bilderraum ab. Seine Aktivität – und nicht die Aktivität der Neuronen am Vorderende der Verarbeitungsketten – versetzt uns in die Lage, explizite Bilder von Objekten und Ereignissen wahrzunehmen. Aus funktioneller wie auch aus anatomischer Sicht ist die Aktivität am Ende der Verarbeitungsketten im Dispositionsraum angesiedelt. Der Dispositionsraum besteht aus CDZs und CDRs in den Assoziationsfeldern, die keine Bilder erzeugen. Der Dispositionsraum lenkt die Bilderzeugung, ist daran aber selbst nicht beteiligt.
In diesem Sinne enthält der Dispositionsraum »Großmutterzellen«; diese sind locker definiert als Neuronen, deren Aktivität im Zusammenhang mit der Gegenwart eines bestimmten Objekts steht, nicht aber als solche, deren Aktivität von sich aus explizite geistige Bilder von Objekten und Ereignissen möglich macht. Neuronen in den vorderen mediotemporalen Rindenfeldern können tatsächlich in Wahrnehmung oder Erinnerung sehr spezifisch auf einzigartige Objekte ansprechen, was vermuten lässt, dass sie konvergente Signale empfangen. 16 Die Aktivierung dieser Neuronen allein versetzt uns aber ohne die nachfolgende Retroaktivierung nicht in die Lage, unsere Großmutter zu erkennen oder uns an sie zu erinnern. Dazu müssen wir vielmehr wieder einen beträchtlichen Teil der Sammlung expliziter Karten heranziehen, die in ihrer Gesamtheit diese Bedeutung repräsentieren. Wie die Spiegelneuronen, so sind auch die sogenannten Großmutterneuronen CDZs. Sie ermöglichen die zeitarretierte multiregionale Retroaktivierung expliziter Karten in den frühen sensomotorischen Rindenfeldern.
Abb.6.3 . Der Bilderraum (kartiert) und der Dispositionsraum (nicht kartiert) in der Großhirnrinde. Der Bilderraum entspricht zusammen mit den primären motorischen Rindenfeldern den dunkel schattierten Bereichen der vier Darstellungen in Abb. 6.3 A.
Der Dispositionsraum ist in den vier Darstellungen in Abb. 6.3 B ebenfalls durch Schattierung gekennzeichnet.
Die einzelnen Teile des Bilderraums erinnern an Inseln im Ozean des Dispositionsraums, der in den vier unteren Darstellungen wiedergegeben ist.
Zusammenfassend kann man sagen: Die CDZ-Theorie postuliert zwei mehr oder weniger getrennte »Gehirnräume«. Der eine konstruiert während der Wahrnehmung explizite Karten von Objekten und Ereignissen und rekonstruiert sie beim Erinnern. Sowohl bei der Wahrnehmung als auch bei der Erinnerung besteht eine offenkundige Entsprechung zwischen den Eigenschaften des Objekts und der Karte. Der andere Raum enthält keine Karten, sondern Dispositionen, das heißt implizite Formeln dafür, wie die Karten im Bilderraum rekonstruiert werden.
Der explizite Bilderraum wird durch die Gesamtheit der frühen sensomotorischen Rindenfelder gebildet. Wenn ich im Zusammenhang mit den Stellen, an denen die Bilder
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