Selbst ist der Mensch
ähnlichen Aufgabe beobachtet. In anderen Fällen zeigte die Patientin nicht ganz genau dasselbe Muster, man hat aber seither ein paar andere Patienten untersucht, bei denen – wenn auch nicht immer – ein vergleichbares Muster auftrat. 3 Insbesondere ein Patient konnte Reaktionen produzieren, die er vorher als Symbole für Ja oder Nein eingeübt hatte. 4
Die Studie deutet darauf hin, dass selbst dann, wenn am Verhalten keinerlei Anzeichen für Bewusstsein zu erkennen sind, jene Formen von Gehirntätigkeit ablaufen können, die in der Regel mit Geistesprozessen im Zusammenhang stehen. Mit anderen Worten: Die unmittelbare Beobachtung des Gehirns liefert Indizien, die für eine gewisse Aufrechterhaltung von Wachzustand und Geist sprechen, während die Beobachtung des Verhaltens keinerlei Anhaltspunkte dafür liefert, dass eine solche Tätigkeit von Bewusstsein in dem zuvor erörterten Sinn begleitet wird. Diese wichtigen Befunde kann man am einfachsten im Zusammenhang mit der Vielzahl von Belegen interpretieren, wonach Geistesprozesse ohne Bewusstsein ablaufen (wie in diesem Kapitel und in Kapitel 11 zusammenfassend dargestellt wird). Die Befunde lassen sich sicherlich mit der Vorstellung vereinbaren, dass ein Geistesprozess und sogar ein geringfügiger Selbst-Prozess vorhanden sind. Aber obwohl diese Befunde wissenschaftlich und unter dem Gesichtspunkt der medizinischen Versorgung von großer Bedeutung sind, widerstrebt es mir, in ihnen einen Beleg für bewusste Kommunikation zu sehen und deshalb die zuvor erörterte Definition des Bewusstseins aufzugeben.
Das Selbst entfernen und den Geist behalten
Vielleicht der überzeugendste Beleg für die Trennung von Wachzustand und Geist auf der einen Seite und dem Selbst auf der anderen ergibt sich aus einer anderen neurologischen Störung: dem epileptischen Automatismus, der auf bestimmte epileptische Anfallsepisoden folgen kann. Das Verhalten des Patienten wird dabei für kurze Zeit unterbrochen, und seine Tätigkeit kommt völlig zum Stillstand. In der nachfolgenden, meist ebenfalls kurzen Periode nimmt der Patient sein aktives Verhalten wieder auf, ohne dass es aber Anhaltspunkte für einen normalen, bewussten Zustand gibt. Der Patient kann sich schweigend bewegen, aber seine Handlungen – beispielsweise wenn er zum Abschied winkt oder ein Zimmer verlässt – lassen keine übergeordnete Absicht erkennen. Sie zeigen unter Umständen eine »Miniabsicht«, beispielsweise wenn der Patient ein Glas Wasser nimmt und daraus trinkt, aber nichts deutet darauf hin, dass diese Absicht Teil eines größeren Zusammenhangs ist. Der Patient unternimmt keinen Versuch, mit dem Beobachter zu kommunizieren, und spricht auch nicht auf Verständigungsversuche des Beobachters an.
Wenn wir uns in eine Arztpraxis begeben, ist unser Verhalten Teil eines größeren Zusammenhangs, wie dem Zweck des Arztbesuchs, unseren weiteren Plänen für den betreffenden Tag sowie den größeren Plänen und Absichten für unser Leben. Je nachdem in welcher der unterschiedlichen Zeitskalen sich dieser Zusammenhang darstellt, hat der Arztbesuch vielleicht eine Bedeutung oder auch nicht. Alles, was wir in der »Szene« in der Arztpraxis tun, ist von diesen möglichen Inhalten durchdrungen, selbst wenn wir sie nicht alle im Kopf haben müssen, um uns folgerichtig zu verhalten. Dem Arzt ergeht es im Rahmen seiner Rolle in der Szene genauso. In einem Zustand des verminderten Bewusstseins jedoch reduzieren sich diese gesamten Hintergrundeinflüsse auf wenig oder nichts. Das Verhalten wird dann durch unmittelbare Anhaltspunkte gesteuert und ist nicht in einen größeren Zusammenhang eingebettet. Ein Glas in die Hand zu nehmen und daraus zu trinken, ist sinnvoll, wenn man durstig ist, aber diese Tätigkeit braucht in keiner Beziehung zum umfassenderen Kontext zu stehen.
Ich kann mich noch gut erinnern, wie ich zum ersten Mal einen Patienten mit einer solchen Störung beobachtete. Sein Verhalten war für mich etwas völlig Neues, Unerwartetes und höchst Beunruhigendes. Der Patient hörte mitten in unserem Gespräch auf zu sprechen und stellte auch seine Bewegungen ein. Sein Gesichtsausdruck schwand, und seine offenen Augen blickten an mir vorbei an die Wand hinter mir. Mehrere Sekunden lang verharrte er völlig bewegungslos. Er fiel nicht vom Stuhl, schlief nicht ein, hatte keine Krämpfe und zuckte nicht. Ich sprach ihn mit seinem Namen an, aber er antwortete nicht. Als er sich wieder – anfangs nur sehr
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