Selbst ist der Mensch
Wissen von heute? Nach meiner Überzeugung war der Aufbau seiner Selbst-Funktion schwer gestört. Er verfügte nicht mehr über die Fähigkeit, in jedem Augenblick den größten Teil der Selbst-Prozesse zu erzeugen, die ihm automatisch einen ganz eigenen Überblick über seinen Geist verschafft hätten. Zu diesen Selbst-Abläufen hätten auch Elemente seiner Identität, seiner jüngeren Vergangenheit und seiner beabsichtigten Zukunft gehört, und sie hätten ihm das Gefühl der Handlungsfähigkeit vermittelt. Die geistigen Inhalte, über die der Selbst-Prozess einen Überblick verschafft, waren vermutlich stark reduziert. Unter den beschriebenen Umständen war der Mann in einem ziellosen, situationslosen Jetzt gefangen. Das Selbst als materielles Ich war zum größten Teil verschwunden und mit ihm höchstwahrscheinlich auch das Selbst als Wissender.
Wach sein, einen Geist zu haben und ein Selbst zu haben, sind unterschiedliche Gehirnprozesse, die sich aus der Tätigkeit unterschiedlicher Bestandteile des Gehirns zusammensetzen. Sie verschmelzen in unserem Gehirn Tag für Tag bruchlos zu einem bemerkenswerten Funktionskontinuum, das verschiedene Ausdrucksformen des Verhaltens zulässt und offenbart. »Abteilungen« wäre aber nicht das richtige Wort. Es handelt sich nicht um Räume, die durch starre Wände getrennt sind – biologische Prozesse gleichen in nichts den von Menschen konstruierten Dingen. Dennoch lassen sie sich auf ihre chaotische, unscharfe, biologische Art trennen, und wenn wir uns nicht um die Beantwortung der Frage bemühen, wie sie sich unterscheiden und wo die subtilen Übergänge stattfinden, haben wir keine Chance zu verstehen, wie das Ganze funktioniert.
Ich würde sagen: Bei einem Menschen, der wach ist und Inhalte im Geist hat, entsteht Bewusstsein, wenn zum Geist eine Selbst-Funktion hinzukommt, die den geistigen Inhalt entsprechend den jeweiligen Bedürfnissen ausrichtet und so Subjektivität hervorbringt. Die Selbst-Funktion ist kein allwissender Homunculus, sondern innerhalb des virtuellen Musterungsprozesses, den wir Geist nennen, das emergente Ergebnis eines weiteren virtuellen Elements: eines erdachten Protagonisten für unsere geistigen Vorgänge.
Die Arbeitsdefinition vervollständigen
Wenn das Bewusstsein durch eine neurologische Erkrankung geschädigt wird, sind keine emotionalen Reaktionen vorhanden, und vermutlich fehlen auch die zugehörigen Gefühle. Patienten mit Bewusstseinsstörungen lassen keine Emotionen erkennen. Ihr Gesicht hat einen nichtssagenden, leeren Ausdruck. Selbst kleine Muskelregungen fehlen, ein bemerkenswerter Aspekt angesichts der Tatsache, dass sogar das sogenannte Pokerface emotional belebt ist und Andeutungen von Erwartungen, Gewandtheit, Verachtung und Ähnlichem verrät. Personen, bei denen irgendeine Form des akinetischen Mutismus oder des vegetativen Zustandes vorliegt, zeigen wenig oder gar keinen Ausdruck von Emotionen, von Komapatienten ganz zu schweigen. Das Gleiche gilt auch für eine tiefe Narkose, erwartungsgemäß aber nicht für den Schlaf: Im Schlaf können Emotionen auftreten, wenn das jeweilige Schlafstadium eine paradoxe Form von Bewusstsein ermöglicht.
Der bewusste Zustand anderer ist an wachem, folgerichtigem, zielgerichtetem Verhalten zu erkennen, zu dem auch Anzeichen für die gerade ablaufenden emotionalen Reaktionen gehören. Schon sehr früh in unserem Leben lernen wir durch direkte Rückmeldungen, dass solche emotionalen Reaktionen regelmäßig von Gefühlen begleitet sind. Später unterstellen wir, dass die Menschen, die wir um uns herum sehen, bestimmte Gefühle erleben, auch wenn sie kein einziges Wort sagen und kein Wort an sie gerichtet wird. Tatsächlich können schon minimale Ausdrücke von Emotionen einem aufmerksamen, einfühlsamen Geist selbst dann Gefühle verraten, wenn sich diese in aller Stille abspielen. Dieser Prozess des Unterstellens von Gefühlen hat nicht das Geringste mit Sprache zu tun. Er stützt sich auf die eingehend geübte Beobachtung von sich ändernden Körperhaltungen und Gesichtsausdrücken.
Warum sind Emotionen ein so charakteristisches Anzeichen für Bewusstsein? Weil die meisten Emotionen vom periaquäduktalen Grau (PAG) in engem Zusammenwirken mit dem Nucleus tractus solitarius (NTS) und dem Nucleus parabrachialis (NPB) ausgehen, jenen Strukturen, die gemeinsam körperliche Gefühle (darunter die ursprünglichen Gefühle) und die Variationen davon, die wir als emotionale Gefühle
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