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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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wenig – bewegte, schmatzte er mit den Lippen. Seine Blicke wanderten umher und konzentrierten sich anscheinend vorübergehend auf eine Kaffeetasse, die auf dem Tisch zwischen uns stand. Sie war leer, aber er griff dennoch danach und versuchte, daraus zu trinken. Immer wieder sprach ich ihn an, aber ich bekam keine Antwort. Ich fragte ihn, was los sei – keine Antwort. Sein Gesicht war immer noch ausdruckslos, und er sah mich nicht an. Ich rief seinen Namen – wiederum keine Antwort. Schließlich stand er auf, drehte sich um und ging langsam zur Tür. Ich sprach ihn noch einmal an. Er blieb stehen, sah mich an, und sein Gesicht nahm einen verblüfften Ausdruck an. Wieder nannte ich seinen Namen, und er sagte: »Was?«
    Der Patient hatte eine Absence (eine Form eines epileptischen Anfalls) erlebt, gefolgt von einer Phase des Automatismus. Er war da und doch nicht da gewesen. Sicher, er war wach gewesen und verhielt sich, war teilweise aufmerksam und körperlich anwesend, aber als Person war er nicht vorhanden. Viele Jahre später schrieb ich, dieser Patient sei »abwesend gewesen, ohne weggegangen zu sein«, eine Beschreibung, die auch heute noch zutrifft. 5
    Der Mann war ohne Zweifel wach im vollen Sinne des Wortes. Seine Augen waren geöffnet, und seine Muskelspannung versetzte ihn in die Lage, sich hin und her zu bewegen. Er konnte ohne Frage eine Tätigkeit ausführen, aber diese Tätigkeit ließ nicht auf einen organisierten Plan schließen. Er verfolgte keine übergeordnete Absicht und nahm keine Rücksicht auf die Situation; seine Handlungen waren nicht angemessen und hatten nur einen geringen Zusammenhang. Sein Gehirn erzeugte zweifellos geistige Bilder, über ihre Zahl oder Stimmigkeit können wir aber keine Angaben machen. Um nach einer Tasse zu greifen, sie hochzuheben, an die Lippen zu führen und zurück auf den Tisch zu stellen, muss das Gehirn Bilder produzieren, und zwar eine ganze Menge – zumindest im visuellen, kinästhetischen und taktilen Bereich –, sonst könnte der Mann die Bewegungen nicht richtig ausführen. Dies spricht zwar für das Vorhandensein eines Geistes, es liefert aber keine Anhaltspunkte für ein Selbst. Der Mann erkannte offenbar nicht, wer er war, wo er war, wer ich war oder warum er vor mir saß.
    Tatsächlich fehlten nicht nur Anhaltspunkte für solche offenkundigen Kenntnisse, sondern es deutete auch nichts auf eine verborgene Verhaltenssteuerung hin, auf eine Art unbewussten Autopiloten, der uns in die Lage versetzt, nach Hause zu gehen, ohne dass wir uns bewusst auf den Weg konzentrieren. Ebenso gab es im Verhalten des Mannes keine Anzeichen für Emotionen – ein aufschlussreicher Hinweis auf ein schwerwiegend gestörtes Bewusstsein.
    Solche Fälle liefern stichhaltige Belege – vielleicht sogar die bisher einzigen definitiven Belege – für einen Bruch: Auf der einen Seite zwei Funktionen – Wachzustand und Geist – die verfügbar bleiben, auf der anderen die Funktion des Selbst, die nach allem, was man sagen kann, nicht zur Verfügung steht. Der Mann hatte kein Gespür für seine eigene Existenz, und sein Gespür für die Umgebung war gestört.
    Wie so häufig, wenn man komplexe Verhaltensweisen analysiert, die durch Gehirnkrankheiten beeinträchtigt werden, erweisen sich auch hier die Kategorien, mit deren Hilfe man Hypothesen über die Gehirnfunktion aufstellen und die eigenen Beobachtungen sinnvoll interpretieren will, als schwammig. Wachzustand und Geist sind keine »Dinge« nach dem Motto »alles oder nichts«. Und natürlich ist das Selbst kein Ding, sondern ein dynamischer Prozess, der während unserer wachen Stunden meist auf einem relativ stabilen Niveau bleibt, aber auch während dieses Zeitraums und insbesondere an seinem Anfang und seinem Ende von Schwankungen geprägt ist. Wachzustand und Geist, wie sie hier beschrieben werden, sind ebenfalls Prozesse und nichts Starres. Prozesse zu Dingen zu machen, ist nur eine Folge unseres Bedürfnisses, anderen komplizierte Ideen schnell und effizient mitzuteilen.
    In dem gerade beschriebenen Fall kann man mit Sicherheit annehmen, dass der Wachzustand intakt und die Geistesprozesse vorhanden waren. Man kann aber nichts darüber sagen, wie reichhaltig der Geistesprozess war; er reichte nur aus, um sich in dem begrenzten Umfeld, mit dem der Mann zurechtkommen musste, zu orientieren. Und was das Bewusstsein angeht, so war es ganz offensichtlich nicht normal.
    Wie interpretiere ich die Situation des Mannes mit dem

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