Selbst ist der Mensch
berücksichtigen wie die Ebene des Kernbewusstseins.
In meiner heutigen Vorstellung verändert sich die Reichweite des Bewusstseins viel stärker, als ich anfangs geglaubt hatte – so als würde ein Regler auf einer Skala hin und her geschoben. Die Verschiebung nach oben oder unten kann, je nach Bedarf, auch sehr schnell innerhalb eines bestimmten Ereignisses stattfinden. Mit dieser Wandelbarkeit und Dynamik unterscheidet sich die Reichweite nicht sonderlich von den schnellen Intensitätsveränderungen, die sich bekanntermaßen im Laufe des Tages abspielen und mit denen wir uns bereits beschäftigt haben. Wenn wir uns in einer Vorlesung langweilen, wird das Bewusstsein stumpf, oder wir dösen sogar ein, und es geht völlig verloren. Ich hoffe natürlich, dass es Ihnen jetzt gerade nicht so geht.
Bei Weitem am wichtigsten ist, dass sich die Bewusstseinsebenen mit der Situation verändern. Wenn ich beispielsweise meinen Blick von der Manuskriptseite hebe und nachdenke, und wenn dann Delfine vorüberschwimmen und meine Aufmerksamkeit fesseln, nutze ich nicht die volle Reichweite meines autobiografischen Selbst, denn dafür besteht in diesem Augenblick kein Bedarf; es wäre eine Verschwendung von Gehirn-Verarbeitungsleistung, vom Brennstoff ganz zu schweigen. Ebenso brauchte ich kein autobiografisches Selbst für die Gedanken, die mir durch den Kopf gegangen sind, bevor ich die vorangegangenen Sätze geschrieben habe. Wenn mir aber ein Interviewer gegenübersitzt und von mir wissen will, warum und wie ich nicht Ingenieur oder Filmemacher, sondern Neurologe und Neurowissenschaftler geworden bin, muss ich mein autobiografisches Selbst heranziehen. Diesem Bedürfnis kommt mein Gehirn nach.
Die Bewusstseinsebene verändert sich auch schnell, wenn wir tagträumen oder die Gedanken schweifen lassen. Man könnte auch sagen: Wir lassen das Selbst wandern, denn Tagträume erfordern nicht nur eine horizontale Wanderung weg vom Inhalt der momentanen Tätigkeit, sondern auch ein Herabsteigen zum Kern-Selbst. Dann treten die Produkte unserer »Offline«-Fantasie in den Vordergrund – Pläne, Beschäftigungen, Fantasien, alle möglichen Bilder, die einem durch den Kopf gehen, wenn man auf dem Santa Monica Freeway im Stau steht. Aber auch ein Online-Bewusstsein, das sich auf das Kern-Selbst hinunterbegibt und durch ein anderes Thema abgelenkt wird, ist immer noch normales Bewusstsein. Dies gilt jedoch nicht für das Bewusstsein von Menschen, die schlafwandeln, unter Hypnose stehen oder mit »bewusstseinsverändernden« Drogen experimentieren. Was Drogen angeht, so ist die Liste der von ihnen hervorgerufenen, anormalen Bewusstseinszustände lang und vielfältig – die unglaublichsten Abweichungen von Geist und Selbst eingeschlossen. Der Wachzustand kann dabei verlorengehen, und am Ende solcher Abenteuer stehen häufig Schlaf oder ein Erstarrungszustand.
Zusammenfassend kann man sagen: In welchem Umfang das Protagonisten-Selbst in unserem Geist gegenwärtig ist, hängt stark von den Umständen ab. Das Spektrum reicht von einem höchst detaillierten, genau platzierten Abbild dessen, wer wir sind, bis zu einer schwachen Ahnung, dass wir Herr unseres Geistes, unserer Gedanken und unserer Tätigkeiten sind. An einer Idee muss ich aber festhalten: Auch wenn das Selbst manchmal nur subtil und schwach ist, ist seine Gegenwart im Geist notwendig. Die Behauptung, das Selbst sei nirgendwo zu finden, wenn man auf einen Berg steigt oder wenn ich diesen Satz schreibe, ist nicht ganz richtig. Natürlich ist das Selbst in solchen Fällen nicht auffällig zur Schau gestellt; es zieht sich bequemerweise in den Hintergrund zurück und macht in unserem Bilder erzeugenden Gehirn Platz für all die anderen Dinge, die Verarbeitungskapazität erfordern, beispielsweise die Flanke des Berges oder die Gedanken, die ich dem Papier anvertrauen will. Dennoch wage ich zu behaupten: Würde der Selbst-Prozess völlig aussetzen und verschwinden, würde der Geist seine Orientierung und die Fähigkeit, seine Teile zu sammeln, verlieren. Unsere Gedanken würden im Leerlauf kreisen, ohne dass ein Besitzer Anspruch darauf erhebt. Unsere praktische Leistungsfähigkeit würde auf ein sehr geringes Maß zurückgehen oder völlig verschwinden, und für andere, die uns beobachten, wären wir verloren. Wie würden wir aussehen? Nun, wir würden bewusstlos wirken.
Ich fürchte, der Umgang mit dem Selbst ist nicht einfach, denn je nach Blickwinkel kann das Selbst sehr
Weitere Kostenlose Bücher