Selbst ist der Mensch
einem bewussten Geist macht, muss von unten nach oben konstruiert werden. Nichts könnte von dem hier dargestellten Gedanken an ein Protoselbst weiter entfernt sein als die Vorstellung von einem Homunculus. Das Protoselbst ist eine einigermaßen stabile Plattform und damit ein Quell der Kontinuität. Die Plattform nutzen wir zur Aufzeichnung der Veränderungen, die dadurch entstehen, dass ein Organismus mit seiner Umgebung interagiert (beispielsweise wenn man ein Objekt sieht und danach greift), oder um die Veränderungen in Struktur oder Zustand des Organismus festzuhalten (beispielsweise wenn man eine Verletzung erleidet oder wenn der Blutzuckerspiegel übermäßig absinkt). Die Veränderungen werden im Verhältnis zum derzeitigen Zustand des Protoselbst registriert , und die Störung löst physiologische Abläufe aus; das Protoselbst besitzt aber keine Information außer der, die in seinen Karten enthalten ist. Das Protoselbst ist kein Weiser, der in Delphi sitzt und uns die Frage beantwortet, wer wir sind.
Konstruktion des Kern-Selbst
Wenn man über eine Strategie zum Aufbau des Selbst nachdenkt, beginnt man am besten mit den Erfordernissen für das Kern-Selbst. Das Gehirn muss in den Geist etwas einführen, das zuvor nicht vorhanden war: einen Protagonisten. Wenn dieser inmitten anderer geistiger Inhalte zur Verfügung steht und wenn dieser Protagonist widerspruchsfrei mit einigen derzeitigen Inhalten verknüpft ist, wohnt dem Prozess zum ersten Mal Subjektivität inne. Wir müssen uns zuerst auf die Protagonisten-Schwelle konzentrieren, jenen Punkt, an dem die unverzichtbaren Wissenselemente aufeinandertreffen, verschmelzen und Subjektivität hervorbringen.
Angenommen, wir haben eine einheitliche Insel der relativen Stabilität, die einem bestimmten Teil des Organismus entspricht: Kann daraus mit einem Schlag das Selbst erwachsen? Wenn dem so wäre, müssten Anatomie und Physiologie der Gehirnareale, in denen das Protoselbst angesiedelt ist, den größten Teil der Geschichte über die Entstehung des Selbst erzählen. Das Selbst würde sich demnach aus der Fähigkeit des Gehirns ableiten, Wissen über die stabilsten Aspekte des Organismus anzusammeln und zu integrieren, basta. Das Selbst wäre dann die nicht ausgeschmückte, gefühlte Repräsentation des Lebens im Gehirn, eine reine Erfahrung, die mit nichts anderem verbunden ist als mit ihrem eigenen Körper. Das Selbst würde aus dem ursprünglichen Gefühl bestehen, das vom Protoselbst in seinem unveränderten Zustand spontan und gnadenlos Augenblick für Augenblick geliefert wird.
Wenn es aber um das vielschichtige geistige Leben geht, das jeder von uns gerade in diesem Augenblick erlebt, reichen Protoselbst und ursprüngliche Gefühle als Erklärung für das Selbst-Phänomen, das wir hervorbringen, nicht aus. Das Protoselbst und seine ursprünglichen Gefühle sind wahrscheinlich die Grundlage des materiellen Ich, und bei zahlreichen biologischen Arten sind sie aller Wahrscheinlichkeit nach die wichtigste und höchste Ausdrucksform des Bewusstseins. Wir brauchen aber einen Selbst-Prozess, der dazwischen liegt – der zwischen dem Protoselbst mit seinen ursprünglichen Gefühlen auf der einen Seite und den autobiografischen Formen des Selbst, die uns unser Gefühl für Persönlichkeit und Identität vermitteln, auf der anderen angesiedelt ist. Im Zustand des Protoselbst als solchem muss eine entscheidende Veränderung stattfinden, damit es ein Selbst im eigentlichen Sinn des Wortes wird, das heißt ein Kern-Selbst . Dazu muss einerseits das geistige Profil des Protoselbst geschärft werden, so dass es sich abhebt . Zum anderen muss das Protoselbst eine Verbindung mit den Ereignissen eingehen, an denen es beteiligt ist. In der Handlung des Augenblicks muss es zum Protagonisten werden. Die entscheidende Veränderung des Protoselbst ergibt sich aus meiner Sicht durch diese jeden Augenblick neu ablaufende Beteiligung, die von jedem wahrgenommenen Objekt ausgelöst wird. Die Beteiligung erfolgt in engem zeitlichem Zusammenhang mit der sensorischen Verarbeitung des Objekts. Jedes Mal, wenn der Organismus auf ein Objekt – ein beliebiges Objekt – trifft, wird das Protoselbst verändert. Der Grund: Um das Objekt zu kartieren, muss das Gehirn den Körper auf geeignete Weise darauf abstimmen, und die Ergebnisse dieser Abstimmung sowie der Inhalt des kartierten Bildes werden an das Protoselbst übermittelt.
Veränderungen im Protoselbst setzen
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