Selbst ist der Mensch
nicht aber für solche, die erinnert werden? Nein. Wenn wir etwas über ein Objekt in Erfahrung bringen, zeichnen wir nicht nur seine äußere Erscheinung auf, sondern auch unsere Interaktionen mit ihm (unsere Augen-, Kopf- und Handbewegungen und so weiter); zur Erinnerung an ein Objekt gehört deshalb auch die Erinnerung an vielfältige motorische Interaktionen. Wie im Fall der tatsächlichen motorischen Interaktionen mit einem Objekt, so können auch erinnerte oder imaginäre motorische Interaktionen das Protoselbst von einem Augenblick zum anderen verändern.
Sollte dieser Gedanke stimmen, könnte man mit ihm erklären, warum wir nicht das Bewusstsein verlieren, wenn wir in einem ruhigen Raum mit geschlossenen Augen tagträumen – was nach meiner Vermutung ein recht tröstlicher Gedanke ist.
Zusammenfassend kann man sagen: Die Erzeugung von Kern-Selbst-Pulsen bietet – dank einer großen Zahl von Objekten, die mit dem Organismus in Wechselbeziehung treten – die Gewähr für die Erzeugung objektbezogener Gefühle. Solche Gefühle wiederum bauen einen robusten Selbst-Prozess auf, der zur Aufrechterhaltung des Wachzustands beiträgt. Die Kern-Selbst-Pulse versehen die Bilder des verursachenden Objekts auch mit Wertabstufungen und verleihen ihm so eine mehr oder weniger große Besonderheit. Diese Differenzierung zwischen den fließenden Bildern organisiert die Landschaft des Geistes und prägt sie je nach den Bedürfnissen und Zielen des Organismus.
Der Zustand des Kern-Selbst
Wie könnte das Gehirn den Zustand des Kern-Selbst installiert haben? Die Bemühungen zur Beantwortung dieser Frage führen uns zunächst zu recht lokalen Vorgängen, an denen eine begrenzte Zahl von Gehirnregionen beteiligt ist, und dann zu Prozessen, die das ganze Gehirn betreffen und viele Regionen gleichzeitig einbeziehen. Sich die Schritte in Verbindung mit dem Protoselbst im Hinblick auf die Neuronen vorzustellen, ist nicht allzu schwierig. Der interozeptive Bestandteil des Protoselbst ist im oberen Hirnstamm und in der Inselrinde angesiedelt; die Komponente der sensorischen Portale hat ihren Ursprung in den konventionellen somatosensorischen Rindenfeldern und in den Sehfeldern der Stirnlappen.
Damit das Kern-Selbst entstehen kann, müssen einige dieser Komponenten ihren Zustand verändern. Was geschieht, wenn ein wahrgenommenes Objekt eine emotionale Reaktion auslöst und die übergeordneten interozeptiven Karten abwandelt, haben wir bereits erfahren: Es folgt eine Modifikation des Protoselbst, womit sich auch die ursprünglichen Gefühle verändern. Ebenso verändern sich im Protoselbst die Bestandteile der sensorischen Portale, wenn sich ein Wahrnehmungssystem mit einem Objekt beschäftigt. Entsprechend wandeln sich in den Teilbereichen des Protoselbst – Hirnstamm, Inselrinde und somatosensorische Rindenfelder – zwangsläufig auch die Regionen, die an der Erzeugung von Bildern des Körpers mitwirken. Durch diese vielfältigen Ereignisse entstehen kleine Bildfolgen, die in den Geistesprozess einfließen; damit meine ich, dass sie Eingang in den Bilderarbeitsraum der frühen sensorischen Rindenfelder und ausgewählter Regionen des Hirnstamms finden, nämlich in jene, in denen Gefühlszustände erzeugt und abgewandelt werden. Die kleinen Bilderreihen folgen unregelmäßig, aber zuverlässig aufeinander wie Pulsschläge, solange sich die Ereignisse weiterhin abspielen und der Wachzustand gerade noch aufrechterhalten wird.
Bis hierher, in den einfachsten Formen des Kern-Selbst-Zustands, besteht vermutlich kein Bedarf an einem zentralen Koordinationsapparat und erst recht kein Bedarf an einer einzelnen Leinwand, auf der die Bilder gezeigt werden. Die Münzen (das heißt die Bilder) fallen, wohin sie fallen müssen (nämlich in die bilderzeugenden Regionen) und fließen dabei in der richtigen zeitlichen Reihenfolge in den Geistesstrom ein.
Für den vollständigen Aufbau des Selbst-Zustands ist es jedoch erforderlich, dass das abgewandelte Protoselbst mit den Bildern des verursachenden Objekts verknüpft wird. Wie kann das geschehen? Und wie wird die Gesamtheit dieser ganz unterschiedlichen Bildergruppen so organisiert, dass sich eine zusammenhängende Szene und damit ein voll ausgeprägter Puls des Kern-Selbst ergibt?
Abb. 8.4 . Die Mechanismen des Kern-Selbst in schematischer Darstellung. Das Kern-Selbst ist ein zusammengesetzter Zustand. Seine wichtigsten Bestandteile sind die Gefühle, etwas zu wissen, und die
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