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Selbst ist der Mensch

Selbst ist der Mensch

Titel: Selbst ist der Mensch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Damasio
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augenblicklich die Schaffung des Kern-Selbst sowie eine Kette von Ereignissen in Gang. Das erste Glied in dieser Kette ist eine Umwandlung des ursprünglichen Gefühls, die zu einem Gefühl führt, »das Objekt zu kennen«; dieses Gefühl differenziert zwischen dem Objekt und anderen, im gleichen Augenblick vorhandenen Gegenständen. Das zweite Ereignis in der Kette ist eine Folge dieses Gefühls, etwas zu kennen: Dem fraglichen Objekt wird eine »Besonderheit« zuerkannt, ein Prozess, den man allgemein als Aufmerksamkeit subsumiert – das heißt, die Verarbeitungsressourcen werden stärker auf ein bestimmtes Objekt gerichtet als auf andere. Das Kern-Selbst entsteht dann durch Verknüpfung des abgewandelten Protoselbst mit dem Objekt, das für die Abwandlung gesorgt hat und jetzt durch Gefühl gekennzeichnet sowie durch Aufmerksamkeit verstärkt wurde.
    Am Ende des Kreislaufs gehören zum Geist auch Bilder, die eine einfache, sehr häufige Ereignisfolge betreffen: Ein Objekt sprach den Körper an, weil es aus einer bestimmten Perspektive heraus angesehen, berührt oder gehört wurde, die Ansprache führte im Körper zu einer Veränderung, die Gegenwart des Objekts wurde gefühlt, und das Objekt wurde auffälliger gemacht.
    Die nonverbale Darstellung solcher unaufhörlich stattfindenden Ereignisse erzeugt im Geist den Eindruck, dass es einen Protagonisten gibt, dem bestimmte Dinge zustoßen, und dieser Protagonist ist das materielle Ich. Dieser von der nonverbalen Darstellung hervorgerufene Eindruck erschafft den Protagonisten und macht ihn gleichzeitig sichtbar; er verknüpft die vom Organismus ausgeführten Handlungen mit dem Protagonisten und erweckt zusammen mit dem Gefühl, das die Beschäftigung mit dem Objekt hervorruft, die Vorstellung von Eigentümerschaft.
    Um einen bewussten Geist zu schaffen, muss eine Reihe von Bildern zu dem einfachen Geistesprozess hinzukommen: ein Bild des Organismus (das von dem abgewandelten Protoselbst als Stellvertreter geliefert wird), das Bild einer objektbezogenen emotionalen Reaktion (das heißt, ein Gefühl) und ein Bild von dem vorübergehend verstärkten, verursachenden Objekt. Das Selbst tritt in Form von Bildern in den Geist ein, die unermüdlich eine Geschichte solcher Beschäftigungen erzählen . Die Bilder des abgewandelten Protoselbst und des Gefühls, etwas zu kennen, müssen nicht besonders intensiv sein. Es reicht aus, wenn sie auf subtile Weise im Geist vorhanden sind, kaum mehr als Ahnungen, die eine Verknüpfung zwischen Objekt und Organismus herstellen. Schließlich ist das Objekt das Wichtigste, damit der Prozess der Anpassung dienen kann.
    Für mich ist diese wortlose Darstellung ein Bericht darüber, was sich im Leben wie auch im Gehirn abspielt, aber sie ist noch keine Interpretation. Es handelt sich vielmehr um eine unverlangte Beschreibung der Ereignisse – das Gehirn schwelgt in der Beantwortung von Fragen, die niemand gestellt hat. Michael Gazzaniga vertritt die Vorstellung vom »Dolmetscher« als Erklärung für die Entstehung des Bewusstseins. Außerdem brachte er sie sinnvollerweise mit der Tätigkeit der linken Gehirnhälfte und den dort angesiedelten Sprachprozessen in Verbindung. Mir gefällt diese Idee sehr gut (sie klingt sogar deutlich nach Wahrheit); nach meiner Überzeugung trifft sie allerdings in vollem Umfang nur auf die Ebene des autobiografischen Selbst zu, nicht aber auf die des Kern-Selbst. 9
    In einem Gehirn, das üppig mit Gedächtnis, Sprache und Vernunft ausgestattet ist, werden solch einfache Darstellungen angereichert und dürfen noch mehr Kenntnisse zum Ausdruck bringen, so dass ein gut definierter Protagonist entsteht, das heißt ein autobiografisches Selbst. Vermutungen können hinzukommen, und tatsächliche Interpretationen des Ablaufs können erzeugt werden. Wie wir aber im nächsten Kapitel noch genauer erfahren werden, kann das autobiografische Selbst ausschließlich mit Mitteln des Kern-Selbst-Mechanismus aufgebaut werden. Der gerade beschriebene Kern-Selbst-Mechanismus, der im Protoselbst und seinen ursprünglichen Gefühlen verankert ist, stellt den zentralen Mechanismus für die Erzeugung eines bewussten Geistes dar. Die komplexen Hilfsmittel, die notwendig sind, um den Prozess auf die Ebene des autobiografischen Selbst zu erweitern, sind auf eine normale Tätigkeit des Kern-Selbst-Mechanismus angewiesen.
    Gilt der Mechanismus für die Verknüpfung von Selbst und Objekt nur für tatsächlich wahrgenommene Objekte,

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