Selbst ist der Mensch
solche), in den seitlichen somatosensorischen Rindenfeldern (die dafür zuständig sind, die Muskeltätigkeit von Kopf, Hals und Gesicht aufzuzeichnen), in den emotionsassoziierten Strukturen von Hirnstamm, basalem Vorderhirn und Basalganglien und der Inselrinde (deren gemeinsame Tätigkeit dazu beiträgt, meine angenehmen Eindrücke von der Szene zu erzeugen), in den Colliculi superiores (deren Karten Informationen über die abgebildete Szene, die Augenbewegungen und den Zustand des Körpers aufnehmen) und in den Assoziationskernen des Thalamus, die durch den gesamten Signalaustausch in Großhirnrinde und Hirnstammregionen angesprochen werden.
Und was kommt unter dem Strich bei allen diesen Veränderungen heraus? Die Karten, die den Zustand der sensorischen Portale abbilden, und jene, die sich auf den inneren Zustand des Organismus beziehen, registrieren eine Störung. Durch Abwandlung des ursprünglichen Gefühls des Protoselbst entsteht nun, bezogen auf die verursachenden Objekte, das differenzierende Gefühl, etwas zu kennen. Infolgedessen fallen die jüngsten visuellen Karten des zu kennenden Objekts (des jagenden Pelikanschwarmes) stärker auf als anderes Material, das unbewusst in meinem Geist verarbeitet wird. Dieses andere Material konkurriert vielleicht um bewusste Verarbeitung, aber damit hat es keinen Erfolg, weil die Pelikane aus verschiedenen Gründen für mich so interessant – das heißt so wertvoll – sind. Belohnungskerne in Regionen wie dem Tegmentum ventralis des Hirnstamms, dem Nucleus accumbens und den Basalganglien sorgen für eine Sonderbehandlung der Bilder von den Pelikanen, indem sie selektiv in den bilderzeugenden Arealen geeignete Neuromodulatoren ausschütten. Aus solchen Gefühlen, etwas zu kennen, entstehen Gefühle für das Eigentum an den Bildern und auch Handlungsfähigkeit. Gleichzeitig haben die Veränderungen in den sensorischen Portalen das zu kennende Objekt bezogen auf mich in eine ganz bestimmte Perspektive gesetzt. 11
Aus dieser umfassenden Gehirnkarte erwachsen die Zustände des Kern-Selbst in pulsartiger Form. Aber plötzlich klingelt das Telefon, und der Zauber ist dahin. Widerstrebend, aber unausweichlich bewegen sich mein Kopf und meine Augen in Richtung des Hörers. Ich stehe auf. Jetzt beginnt der ganze Kreislauf der Erzeugung eines bewussten Geistes von vorn, und dieses Mal ist er auf das Telefon konzentriert. Die Pelikane sind aus meinem Blickfeld und meinem Geist verschwunden; dafür befindet sich jetzt das Telefon darin.
9. Das autobiografische Selbst
Erinnerung, bewusst gemacht
Eine Autobiografie besteht aus persönlichen Erinnerungen, aus der Gesamtheit unserer Lebenserfahrungen, einschließlich der mehr oder weniger spezifischen oder vagen Pläne, die wir für die Zukunft gemacht haben. Das autobiografische Selbst ist die bewusst gemachte Autobiografie. Es greift auf das gesamte Spektrum unserer im Gedächtnis verbliebenen Vergangenheit zurück, der jüngeren ebenso wie der entfernten. Zu dieser Vergangenheit gehören die zwischenmenschlichen Erlebnisse, an denen wir teilhatten oder gern Anteil gehabt hätten, aber auch Erinnerungen, die unsere tiefsten emotionalen Erlebnisse beschreiben, nämlich jene, die wir als spirituell bezeichnen könnten.
Während das Kern-Selbst unaufhaltsam pulsiert und ständig »online« ist – von der halb erahnten Ahnung bis zur aufdringlichen Gegenwart –, führt das autobiografische Selbst ein Doppelleben. Es kann einerseits offen auftreten und bildet dann den bewussten Geist in seiner großartigsten, am stärksten menschlichen Form; andererseits kann es auch ruhen, wobei seine unzähligen Bestandteile warten, bis sie an der Reihe sind und aktiv werden. Dieses zweite Leben des autobiografischen Selbst findet hinter den Kulissen statt, entfernt vom zugänglichen Bewusstsein; dort und in solchen Ruhephasen reift das Selbst vermutlich heran, weil sich Erinnerungen allmählich verfestigen und umgebaut werden. Wenn die durchlebten Erfahrungen wieder zusammengesetzt und – ob in bewusster Reflexion oder durch unbewusste Verarbeitung – erneut abgespielt werden, wird ihre Substanz neu bewertet und zwangsläufig auch neu angeordnet. Dabei kann es sich um eine geringfügige Modifikation handeln, aber auch um einen weitreichenden Umbau im Hinblick auf die Tatsachenzusammensetzung und ihre emotionale Begleitung. Durch diesen Prozess erhalten Inhalte und Ereignisse ein neues emotionales Gewicht. Manche Erinnerungsbilder
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