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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Édouard Levé
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und nachdem du den Raum mit einem Blick durchstreift hattest, verließt du das Lokal. Eine Stunde lang irrtest du auf der Suche nach einem etwas zeitgemäßeren Lokal umher. Es war schon dunkel, als du in einer Gasse der Fußgängerzone eine Designer-Bar entdecktest, die mit sanftem Licht erleuchtet war und wo man Tapas servierte. Der Ort war einladend. Etwa dreißig junge Leute unterhielten sich an der Bar, während langsame elektronische Musik eine entspannte Atmosphäre verbreitete. Einige niedrige Tische waren mit Grüppchen von Freunden besetzt. Du suchtest dir einen Platz in einer Ecke der verglasten Terrasse, um sowohl die Besucher der Bar wie auch die Passanten draußen beobachten zu können. Aber die Gasse war leer, und die einzigen Leute, die zu sehen waren, kamen gerade bei der Bar an oder verließen diese. Du bestelltest Chipirones, Schinken, Guindillas, Chorizo und Lomo, dazu eine halbe Flasche Rioja. Du hattest etwa die Hälfte davon gegessen, als du die polnische Künstlerin kommen sahst, mit der du den Vorabend verbracht hattest. Sie war mit Freunden verabredet und ging direkt auf diese zu. Dich sah sie nicht. Du zögertest, sie aufzuhalten, du hattest keine Lust, Leute kennenzulernen, die du nach deiner Abreise nie wiedersehen würdest. Andererseits schien es dir absurd, dich nicht bemerkbar zu machen, zumal du allein warst und nicht aufhören konntest, sie anzuschauen. Sie wandte sich in deine Richtung, sah dich und schickte dir ein breites Lächeln hinüber. Du lächeltest zurück; es war dir peinlich, dass sie glauben konnte, du habest sie ignorieren wollen. Von deinem Platz aus konntest du sie schlecht nicht gesehen haben. Jeder zögerte, auf den anderen zuzugehen. Ihr schautet euch an, unendlich lang, wie es dir schien. Du standst auf und gingst auf sie zu. Nachdem du dich mit ihren Freunden bekannt gemacht hattest, schlugst du ihr ohne Rücksicht auf diese vor, mit an deinen Tisch zu kommen. Trotz der Unhöflichkeit deines Vorschlags stimmte sie zu. Du befragtest sie nach ihrem Leben in Polen, nach ihrer Familie und ihrer Kunst. Sie antwortete ausführlich und genau, doch als sie sich ihrerseits erkundigte, antwortetest du, indem du weitere Fragen stelltest. Du hattest keine Lust, über dich zu sprechen, doch du hättest ihr stundenlang zuhören können, wie sie über sich selbst Auskunft gab. Du fragtest dich, ob du gerade dabei warst, sie zu verführen oder ob sie daran dachte. Was würdest du tun, wenn ihre Freunde ohne sie gingen und sie dich bis zur Pforte deines Hotels begleiten würde? Du warst deiner Frau treu, aber vielleicht nur, weil sich in der Stadt, in der du wohntest, nie die Gelegenheit geboten hatte, sie zu betrügen? Du erinnertest dich an mögliche Abenteuer mit Frauen, die sich dir weit von zu Hause entfernt eröffnet hatten. Du hattest dich nie darauf eingelassen. Als diese Frau dir jetzt vorschlug, woanders noch ein Glas zu trinken und du merktest, dass ihre Freunde diskret verschwunden waren, entschiedst du dich, in dein Hotel zurückzukehren. Sie begleitete dich. An der Schwelle des Eingangs angekommen spracht ihr beide nicht mehr. Ihr standet wortlos da und schautet euch an. In dem Augenblick, da sie sich dir langsam näherte, sagtest du, du wollest schlafen gehen. Sie lächelte dich an, und nachdem du dir ihre Adresse notiert hattest, verließt du sie. Zurück in deinem Zimmer bereutest du nichts und schliefst ruhig ein, trotz des Eindrucks, den ganzen Tag nur die Zeit bis zu deiner Abreise totgeschlagen zu haben. Am nächsten Morgen wurdest du von einem Gefühl der Leere geweckt. Du tatst dasselbe wie am Vortag: aufstehen, die Vorhänge öffnen, dich rasieren und waschen. Du gingst hinunter, um im Speiseraum zu frühstücken. Der Raum war leer, es war fast zehn Uhr. Du last flüchtig eine Lokalzeitung vom Vortag. Zurück in deinem Zimmer erinnertest du dich kaum an die Informationen, die du gerade gelesen hattest. Du stiegst wieder hinunter und gingst ohne Ziel in die Stadt. Doch deine Schritte lenkten dich spontan zu denselben Orten, die du schon am Tag zuvor aufgesucht hattest. Was du sahst, interessierte dich weniger, die Orte hatten den Reiz des Neuen verloren. Du nahmst dir vor, einfach die erste Straße nach rechts zu gehen, dann die zweite nach links, wieder die erste nach rechts und so weiter, ohne von dieser Methode abzuweichen und ohne dich von irgendeinem Reiz, der sich bieten könnte, ablenken zu lassen. Auf diese Weise verbrachtest du den Tag und

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