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Selbstmord (German Edition)

Selbstmord (German Edition)

Titel: Selbstmord (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Édouard Levé
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prüftest von Zeit zu Zeit im Stadtplan, wohin der Zufall dich führte. Du aßt in einem Café am Rand eines Platzes zu Mittag; es war ein beliebtes Viertel, das fast fünf Kilometer von der Innenstadt entfernt lag. Du schautest die Passanten an und begannst, Statistiken anzufertigen, um eine Beschäftigung zu haben. Du zähltest die Anzahl von Frauen, Männern und Kindern. Du ordnetest die Leute nach Alter, vermutlichem Beruf oder anderen, subjektiveren Kriterien wie dem Geschmack, den ihre Kleider verrieten, oder der Eigenart ihres Gangs. Auf diese Weise verbrachtest du zwei Stunden auf der Terrasse des Cafés. Als du diese »Statistiken« noch einmal überflogst, warst du von ihrer Absurdität verblüfft. Was sollte dieses Inventar, das niemandem nützte und mit dem du nichts anfangen würdest? Du zerrisst die Seiten und warfst sie in die Gosse. Es war drei Uhr nachmittags. Statt deine Zufallsroute wieder aufzunehmen, kehrtest du auf kürzestem Weg in Richtung Innenstadt zurück. Als du in der Nähe deines Hotels ankamst, war es allerdings noch zu früh, um zu Abend zu essen. Du entschiedst dich, noch einmal denselben Weg wie am Vorabend abzulaufen und zu überprüfen, ob das Gesehene inzwischen in deinem Gedächtnis verankert war. Du schautest nicht auf den Plan und zögertest bei einem Richtungswechsel nicht ein einziges Mal. Du erkanntest dieselben Details, Schilder, Gehsteige und Straßenarbeiten wieder. Nur die Passanten unterbrachen die Monotonie des Spektakels. Du spürtest, wie dein Körper müde wurde. Dieser Stadtbummel gestaltete sich zu einer unbeabsichtigten Sportübung! Als du wieder am Ausgangspunkt ankamst, hattest du jedes Zeitgefühl verloren. Du schautest auf die Uhr und stelltest überrascht fest, dass vier Stunden vergangen waren. Du nahmst dir vor, im erstbesten Restaurant zu essen, das sich dir bieten würde. Es war das Clos Saint-Vivien, ein Lokal mit traditioneller bürgerlicher Küche und eleganter Einrichtung. Du wähltest von jedem Gang den ersten Eintrag in der Karte: Gänseleber mit Mangokonfitüre, Entrecôte mit Sauce Bordelaise und geschwenkten Kartoffeln, Himbeer-Sahnetorte. Die gedämpfte Atmosphäre ließ dich wieder zu Kräften kommen, doch die übertriebene Aufmerksamkeit der Kellner, die dich ständig im Auge behielten, um deine Wünsche zu erfüllen, wurde umso lästiger, je mehr Gäste das Restaurant verließen. Bevor auch noch das letzte Paar verschwand, zahltest du die Rechnung und verließt das Lokal. Es war halb eins. Zurück in deinem Hotel machtest du Aufzeichnungen zu den letzten zwei Tagen. Du beschriebst, was du gesehen, getan und gedacht hattest. Obwohl du glaubtest, ein Vakuum hinter dir zu haben, hielt dich das Verfassen dieses Textes bis fünf Uhr morgens wach. Als du ihn am nächsten Tag im Zug nach Hause noch einmal last, fügtest du noch zahlreiche Anmerkungen ein. Und als deine Frau dich fragte, was du gemacht hattest, verbrachtest du den ganzen Abend damit, ihr in unzähligen Einzelheiten deinen Aufenthalt zu beschreiben. Du hattest dich in dieser Stadt völlig untätig gefühlt und sie nur durchwandert, um die Zeit totzuschlagen. Doch die Leere, der du dich ausgesetzt geglaubt hattest, war eine Illusion gewesen. Du hattest die leeren Momente mit umso stärkeren Empfindungen gefüllt, als niemand und nichts dich davon abgelenkt hatte.
    Du hast für dich eine Gewalt bestimmt, die du anderen gegenüber nicht spürtest. Für sie reserviertest du all deine Geduld und Toleranz.
    In amtlichen Formularen hast du manchmal spaßeshalber die falschen Kästchen angekreuzt, um dir eine andere Identität unter deinem eigenen Namen zu verschaffen. Es kam vor, dass du »ja« ankreuztest bei »ich bin in Mutterschaftsurlaub«, dass du bei »Anzahl der Kinder« »3« eintrugst und bei »Staatsangehörigkeit« »Australien«.
    Du warst der Meinung, schöne Musik sei traurig und traurige Architektur sei hässlich.
    Du hast die Register der Freundschaft nie gewechselt. Du warst verlässlich wie ein großer Stein am Wegrand. Mit einem Lächeln auf den Lippen hast du einmal vom Sinneswandel eines Cousins erzählt. Auf ein und derselben Party hattest du ihn einem alten Freund gegenüber klagen gehört, er leide an immer wiederkehrenden Rückenschmerzen, um dann einem anderen gegenüber auszurufen, er habe sich seit Jahren nicht mehr so wohl gefühlt. Welche Logik trieb diesen Mann? Selbstvergessenheit, unbewusster Widerspruch oder kalkulierte Lüge?
    Der Ausdruck »Ein langer

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