Selection
Das fand im Sommer statt, und man feierte damit die Entstehung von Illeá, die Tatsache, dass es uns noch gab. Was Halloween war, wusste ich nicht. Es tauchte auch nie wieder auf.
Mindestens dreimal im Jahr hatte also die ganze Familie Arbeit. Dad und May malten Bilder, und Mäzene kauften ihre Werke als Geschenke. Mom und ich traten bei Festen auf – ich sang, sie spielte Klavier – und versuchten alle Engagements anzunehmen, die uns angeboten wurden. Als ich noch jünger war, fürchtete ich die Auftritte. Inzwischen finde ich mich damit ab, dass wir nur Hintergrundmusik zu liefern haben. Das wird von uns erwartet: dass man uns nicht sieht, sondern nur hört.
Gerad hatte seine Gabe noch nicht entdeckt. Aber er war ja auch erst sieben. Das hatte noch Zeit.
Mit der Laubfärbung würde unsere kleine Welt wieder ins Wanken geraten. Fünf Münder, aber nur vier Leute, die Geld verdienen konnten. Und keine Garantie für Aufträge bis Weihnachten.
Aus diesem Blickwinkel betrachtet, erschien mir das Casting wie eine Rettungsleine. Dieser blöde Brief konnte mich aus dem dunklen Loch herausziehen, mich und meine Familie.
Ich warf einen Blick auf meine Mutter. Für eine Fünf war sie recht mopplig. Sie aß gar nicht viel, und wir hatten ja ohnehin nie genug. Vielleicht sieht man einfach so aus, wenn man fünf Kinder geboren hat. Wie ich hatte sie rote Haare, durchzogen von weißen Strähnen. Die waren vor zwei Jahren plötzlich aufgetaucht. Mom war noch ziemlich jung, aber sie hatte Fältchen um die Augen, und während sie in der Küche arbeitete, ging sie so gebeugt, als habe sie eine schwere Last zu schleppen.
Ich wusste, dass sie viel Verantwortung trug. Und ich wusste auch, dass sie deshalb Druck auf mich ausübte. Schon unter normalen Umständen stritten wir uns häufig, aber wenn der bedrohliche Herbst nahte, wurde sie immer gereizter. Mir war auch klar, dass sie mich jetzt unmöglich fand, weil ich mich weigerte, dieses Stück Papier auszufüllen.
Aber es gab Dinge auf dieser Welt – wichtige Dinge –, die ich liebte. Und dieses Blatt Papier kam mir vor wie eine Mauer, die mich von allem trennen sollte, was ich mir wünschte. Vielleicht war das, was ich wollte, ganz unsinnig. Vielleicht würde ich es auch nie bekommen. Aber dennoch gehörte dieser Wunsch zu mir. Ich fühlte mich außerstande, meine Träume zu opfern, sosehr meine Familie mir auch am Herzen lag. Und die Familie bekam ohnehin schon so viel von mir.
Seit Kenna geheiratet hatte und Kota ausgezogen war, war ich das älteste Kind im Haus, und ich hatte mich bemüht, meine neue Rolle so schnell wie möglich auszufüllen. Ich tat, was in meinen Kräften stand. Schulunterricht bekam ich zu Hause, und meine Proben nahmen den größten Teil des Tages ein, da ich nicht nur sang, sondern auch mehrere Instrumente lernte.
Doch dieser Brief stellte all das in Frage. In Moms Vorstellung war ich schon Königin.
Es wäre schlau gewesen, diesen blöden Wisch verschwinden zu lassen, bevor Dad, May und Gerad nach Hause kamen. Aber Mom hatte ihn in der Tasche, und beim Essen brachte sie ihn zum Vorschein.
»An die Familie Singer«, flötete sie.
Ich versuchte ihr den Brief wegzureißen, aber sie war schneller. Früher oder später würden es ohnehin alle erfahren, aber so konnte sie die anderen leicht auf ihre Seite ziehen.
»Mom, bitte!«, sagte ich flehentlich.
»Ich will es aber hören!«, bettelte May. Das wunderte mich nicht. Meine kleine Schwester sah zwar wie eine drei Jahre jüngere Version von mir aus – aber unsere Persönlichkeiten waren grundverschieden: Im Gegensatz zu mir war May lebhaft und fröhlich. Und derzeit völlig verrückt nach Jungs. Sie würde diese Sache auf jeden Fall furchtbar romantisch finden.
Ich lief schamrot an. Dad hörte aufmerksam zu, und May strahlte. Gerad, der süße Kleine, aß ungerührt weiter. Mom räusperte sich und fuhr fort.
»Die jüngste Volkszählung hat ergeben, dass in Ihrem Haushalt eine unverheiratete weibliche Person zwischen sechzehn und zwanzig Jahren lebt. Wir möchten bekannt geben, dass in Kürze die Möglichkeit besteht, dem großartigen Staate Illeá Ehre zu erweisen.«
»Das bist du!«, kreischte May und packte mich an der Hand.
»Ich weiß, du Quietschmaus. Lass mich los, du brichst mir noch den Arm.« Aber May hielt meine Hand weiter umklammert und zappelte aufgeregt herum.
»Unser hochverehrter Prinz Maxon Schreave«, las Mom weiter, »wird in diesem Monat volljährig. Er möchte diese
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