Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
war trotz allem besser, wenn wenigstens eine von ihnen schlafen konnte. Vorsichtig und fast geräuschlos stand sie auf, nahm den rosa Morgenrock vom Haken neben der Tür und ging ins Wohnzimmer. Dort ließ sie sich in einen Sessel sinken und machte sich noch einmal an die Verhörprotokolle.
Die drei Polizisten faßten sich relativ kurz, in der knappen, versuchsweise präzisen Sprache, die so oft alles andere als präzise war und ihr gewaltig auf die Nerven ging. Der Anwärter dagegen verfügte offenbar über größeren literarischen Ehrgeiz. Er suhlte sich in Metaphern, langen Sätzen und heftigsten Umschweifen. Hanne lächelte. Der Junge konnte wirklich schreiben; selbst an der Rechtschreibung war nur hier und da eine Kleinigkeit auszusetzen. Aber besonders polizeimäßig war das Ganze wohl kaum.
Himmel. Dieser Knabe hatte Talent! Er hatte entdeckt, daß die Familie, die dem Opfer gegenüber wohnte, einen Untermieter hatte. Einen, der still am Fenster saß und zu schlafen schien. Der Anwärter, enttäuscht, weil die anderen Befragten der Polizei einfach nichts liefern konnten, hatte die Straße überquert. Dort hatte er einen komischen Kauz besucht, der offenbar alles im Auge behielt, was in seinem kleinen Straßenende vor sich ging. Der Mann, von ganz unbestimmbarem Alter, war ziemlich feindselig gewesen, aber auch unverhohlen stolz auf seine vielen Archive zu allen möglichen Themen. Und er hatte berichten können, daß erst vor kurzem ein Mann namens Håverstad bei ihm gewesen sei.
Hanne Wilhelmsen war jetzt wacher. Sie schüttelte mehrmals heftig den Kopf, in der Hoffnung, mehr Blut in ihr übermüdetes Hirn zu schaffen, und sie beschloß, sich einen Kaffee zu kochen. Diese Nacht konnte sie ja doch abschreiben, was Schlaf und Ruhe betraf. Doch zuerst las sie die Seite zu Ende. Danach brauchte sie keinen Kaffee mehr. Jetzt war sie hellwach.
Das Telefon klingelte. Ihres. Mit drei Sprüngen war sie in der Diele und hoffte, daß Cecilie nicht schon geweckt worden sei.
»Wilhelmsen«, sagte sie leise und versuchte, mit dem Apparat ins Wohnzimmer zu gehen. Dabei knallte das Telefon auf den Boden.
»Hallo«, diesmal flüsterte sie fast.
»Hier ist Villarsen, Operationszentrale. Wir haben gerade eine Meldung aus Lillehammer bekommen. Sie haben die Iranerin, die du vermißt.«
»Schafft sie her«, sagte Hanne Wilhelmsen kurz, »und zwar sofort.«
»Die haben morgen früh einen Transport nach Oslo, der nimmt sie mit.«
»Nein«, sagte Hanne Wilhelmsen. »Wir brauchen sie jetzt. Sofort. Organisiert irgendwas. Einen Hubschrauber, wenn es sein muß. Egal, was. Ich bin in zehn Minuten da.«
»Meinst du das mit dem Hubschrauber ernst?«
»Ich hab’ kaum je etwas ernster gemeint. Grüß den Adjutanten und sag ihm, es sei lebenswichtig. Und grüßt von mir aus auch den Polizeichef. Ich muß mit dieser Frau sprechen.«
Ausnahmsweise einmal lief in dem großen, heruntergekommenen Gebäude im Gronlandsleiret etwas glatt. Nur zwanzig Minuten nach dem Gespräch zwischen der Operationszentrale und Kommissarin Hanne Wilhelmsen war die kleine iranische Asylbewerberin im Hubschrauber unterwegs nach Oslo. Hanne hatte kurz befürchtet, das Wetter könne diese Reise unmöglich machen, aber sie hatte auch kaum Ahnung von Hubschraubern. Und das Unwetter hatte so weit nachgelassen, daß es kaum noch Probleme gab. Darüber, daß ein bereits überanstrengter Etat diese Aktion eigentlich nicht hergab, konnten sie sich ein andermal streiten.
Die Wartezeit mußte aber trotzdem genutzt werden. Die Iranerin konnte frühestens in einer Dreiviertelstunde eintreffen. Bis dahin mußten sie den Sonderling von gegenüber verhören. Den mit den Autonummern. Sieben Autonummern vom 29. Mai hatte er dem dienstgradlosen Polizeianwärter etwas widerstrebend, aber auch mit einem gewissen Stolz verraten. Leider hatte der unerfahrene junge Mann die Information entgegengenommen, ohne sich die Nummern zu notieren. Obwohl es bereits nach ein Uhr nachts war, sah Hanne Wilhelmsen sich gezwungen, E zu einem Einsatz im Dienste der Gesellschaft anzuspornen.
Das war jedoch leichter gesagt als getan. Sie saß in der Operationszentrale, dem zentralen Raum des Polizeigebäudes. Dort brodelte es vor leiser Aktivität; in regelmäßigen Abständen liefen die Funkmeldungen von den Streifenwagen ein, von Fox und Bravo, Delta und Charlie, je nachdem, wer gerade was machte. Die uniformierten Beamten ihrerseits antworteten mit Informationen und Befehlen und riefen
Weitere Kostenlose Bücher