Selig sind die Dürstenden: Roman (Hanne Wilhelmsen-Reihe) (German Edition)
großes finnisches Küchenmesser in der anderen Hand.
Obwohl sie eigentlich noch eine halbe Stunde hatte warten wollen, stand sie auf und steuerte auf ihr Ziel zu. Das Warten war wie ein Alptraum.
Sie brauchte noch weniger Zeit, als sie angenommen hatte. Als sie eine gute Minute gelaufen war, stand sie auf der Straße, an der das Haus des Vergewaltigers lag. Die Straße war wie ausgestorben. Sie drosselte ihr Tempo, schauderte und ging auf das Haus zu.
»Dreh die Sirene aus.«
Ihre Gemeinde lag nun hinter ihnen. Der Kollege Salomonsen war ein guter Fahrer. Sogar jetzt, auf kleinen Straßen mit Kreuzungen alle zwanzig Meter, fuhr er schnell, aber ruhig, ohne Gewackel oder Schlingern. Sie hatte ihm die Lage geschildert, und per Funk war ihnen die Benutzung von Waffen erlaubt worden.
Sie sah auf die leuchtenden Zahlen am Armaturenbrett. Es war fast zwei Uhr.
»Aber nicht langsamer werden«, sagte Hanne Wilhelmsen.
»Hast du eigentlich eine Ahnung von dem, was du gemacht hast?«
Der Polizist saß gefesselt in seinem eigenen Wohnzimmer und hatte eine vage Ahnung. Er hatte einen Riesenfehler begangen. Das hätte niemals passieren dürfen. Er hatte sich verrechnet. Und wie! Jetzt konnte er sich nur damit trösten, daß sich noch nie jemand auf diese Weise gerächt hatte.
Nicht in Norwegen, sagte er sich. Nicht in Norwegen.
»Du hast meine Tochter kaputtgemacht«, fauchte der Mann und beugte sich in seinem Sessel vor. »Du hast mein kleines Mädchen kaputtgemacht und geschändet.«
Die Messerspitze streifte die Geschlechtsteile des Vergewaltigers, und der stöhnte vor Angst auf.
»Jetzt hast du Angst«, flüsterte der andere und spielte wieder mit dem Messer in der Leistengegend des anderen. »Jetzt hast du vielleicht genau solche Angst wie neulich meine Tochter. Aber das war dir ja egal!«
Der Vergewaltiger konnte einfach nicht mehr. Er holte tief Luft und stieß ein wahnwitziges, schrilles Geheul aus, das selbst die Toten hätte erwecken müssen.
Finn Håverstad warf sich vornüber und schwang das riesige Messer in einem Bogen, in dem sich Tempo und Kraft zusammentaten, von unten nach oben. Die Spitze traf den Vergewaltiger mitten im Schritt, bohrte sich durch die Hoden, perforierte die Leistenmuskulatur und verschwand in der Bauchhöhle, wo sie in einer Schlagader steckenblieb.
Der Schrei verstummte so plötzlich, wie er sich erhoben hatte. Er wurde einfach abgeschnitten, und es war unangenehm still. Der Vergewaltiger sank in sich zusammen, und trotz des schweren Fernsehers auf der Sitzfläche drohte der Sessel umzukippen.
Irgend jemand kam die Treppe heraufgestürzt. Finn Håverstad drehte sich ruhig um, als er die Schritte hörte; er wunderte sich nur ein bißchen, daß die Nachbarn so rasch zur Stelle waren. Und dann sah er, mit wem er es zu tun hatte.
Beide schwiegen. Plötzlich warf Kristine Håverstad sich ihm in etwas, das er für eine Umarmung hielt, entgegen. Er streckte die Arme aus und ging zu Boden, als seine Tochter nach der Pistole griff und dabei seinen Arm zerkratzte. Die Pistole fiel hin, aber sie hatte sie an sich gerissen, ehe er sich wieder aufrappeln konnte.
Er war viel größer als sie und sehr viel stärker. Trotzdem konnte er nicht verhindern, daß sich ein Schuß löste, als er ihren Arm energisch, aber nicht zu hart packte; er wollte sie ja nicht verletzen. Bei dem Knall fuhren beide hoch. Vor Schreck ließ sie die Pistole los und er sie. Einige Sekunden lang standen sie da und starrten einander an, dann packte Kristine den Messergriff, der aus dem Schritt des Vergewaltigers ragte wie ein seltsamer, steinharter Reservepenis. Als sie das Messer herauszog, sprudelte Blut hervor.
Hanne Wilhelmsen und Audun Salomonsen wunderten sich, weil die Kollegen aus Asker und Bærum noch nicht da waren. Die Straße lag dunkel und nächtlich still vor ihnen, ohne das erwartete Blaulicht. Der Wagen kam direkt vor dem Reihenhaus zum Stehen. Als sie auf die Haustür zuliefen, hörten sie in nicht allzu großer Entfernung ein Martinshorn.
Die Tür war aufgebrochen. Sie stand sperrangelweit offen. Sie waren zu spät gekommen.
Hanne Wilhelmsen rannte die Treppe hoch, und dort bot sich ihr ein Anblick, der sie für den Rest ihres Lebens verfolgen würde.
An einen Sessel gebunden, mit nach hinten gebogenen Armen, weit gespreizten Beinen und auf die Brust gefallenem Kinn, hing ihr Kollege Olaf Frydenberg vor ihr. Er sah aus wie ein Frosch. Er war fast nackt. Aus seinem Unterleib schoß Blut in eine
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