Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Semenon und die kleine Landkneipe

Semenon und die kleine Landkneipe

Titel: Semenon und die kleine Landkneipe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georges Simenon
Vom Netzwerk:
summte.
      »Mein Sohn ist unterwegs nach Corbeil, um eine vergessene Lieferung zu holen. Würden Sie wohl so freundlich sein, die Falltür für mich zu öffnen?«
      Die Falltür befand sich inmitten der Küche und ließ, als sie zurückgeschlagen war, den dunklen Gang zum Keller sehen. Die gekrümmte Alte kletterte hinab. Der Gast ließ Maigret nicht aus den Augen.
      Es war ein Bursche von etwa fünfundzwanzig Jahren, sehr blaß, sehr mager, mit blonden Stoppeln im Gesicht. Die Augen lagen tief in den Höhlen, die Lippen waren blutlos. Auffallend war seine Kleidung. Er war nicht zerlumpt wie ein Landstreicher, auch sein Benehmen hatte nichts von der Aufdringlichkeit eines solchen. Es war eine Mischung von Schüchternheit und Angeberei, unterwürfig und aggressiv. Er war sozusagen sauber und schmutzig zugleich.
      »Deine Papiere!«
      Maigret brauchte kaum hinzuzufügen: »Polizei.«
      Der Bursche hatte längst begriffen. Er zog einen zerknitterten Militärpaß aus der Tasche. Der Kommissar nahm ihn und las:
      »Victor Gaillard.«
      Er klappte das Büchlein zu und gab es seinem Eigentümer zurück. Die Alte tauchte wieder auf und schloß die Falltür.
      »Ganz frisch«, sagte sie, den Krug öffnend.
      Dann machte sie sich wieder daran, Kartoffeln zu schälen, während das Gespräch der beiden Männer ohne jedes Zeichen von Erregung begann.
      »Wo hast du zuletzt gewohnt?«
      »In Gien, im städtischen Sanatorium.«
      »Wann bist du entlassen worden?«
      »Vor einem Monat.«
      »Und seitdem?«
      »Ich war blank, habe hier und dort gearbeitet. Sie können mich wegen Landstreicherei festnehmen, aber man muß mich dann doch wieder ins Sanatorium bringen. Habe nur noch eine Lunge.«
      Er sagte es nicht wehleidig, sondern sachlich, als betrachtete er die Tatsache als eine Art Empfehlung.
    »Hat Lenoir an dich geschrieben?«
    »Was für ein Lenoir?«
      »Stell dich nicht dumm! Er hat dir mitgeteilt, du würdest euren Mann in der Pinte wiederfinden.«
      »Hatte nur die Nase voll vom Sanatorium.«
      »… und könntest ihn wieder hochnehmen, den Mann vom Kanal Saint-Martin!«
      Die Alte spitzte die Ohren, verstand aber nicht. Eine Henne lief pickend durch den Raum.
      »Du antwortest nicht?«
      »Ich weiß nicht, worauf Sie hinauswollen.«
      »Lenoir hat gesungen.«
      »Ich kenne keinen Lenoir.«
      Maigret zuckte die Achseln und wiederholte, wobei er seine Pfeife in Brand setzte:
      »Spiel nicht den Idioten. Du weißt ganz gut, was los ist.«
      »Was riskiere ich schlimmstenfalls? Nur das Sanatorium.«
      »Weiß schon, hast nur eine Lunge …«
      Man sah auf dem Fluß Boote dahingleiten.
      »Lenoir hat dir die Wahrheit geschrieben. Der Mann kommt wirklich.«
      »Ich habe nichts zu sagen.«
      »Um so schlimmer für dich! Wenn du bis zum Abend nicht vernünftig wirst, gehst du ins Loch. Zunächst mal wegen Landstreicherei, und dann wird man dein Konto weiter untersuchen.«
      Maigret sah ihm in die Augen, in denen er las wie in einem Buch. Er kannte diese Sorte Menschen nur zu genau.
      Lenoir war von anderer Art gewesen. Victor gehörte zu denen, die sich ins Schlepptau nehmen lassen, die man bei größeren Coups zum Schmierestehen verwendet und die den kleinsten Teil der Beute erhalten.
      Weiche Naturen, die nicht die Kraft haben, etwas zu ändern, wenn sie einmal auf eine bestimmte Bahn geraten sind. Mit sechzehn hatte er sich schon auf der Straße und in Tanzdielen herumgetrieben. Dann der Zufallstreffer am Kanal Saint-Martin, von dem er eine Zeitlang hatte leben können wie von einem stetig und hingebungsvoll ausgeübten Beruf.
      Wäre er gesund gewesen, hätte man ihn zweifellos als untergeordnetes Mitglied in Lenoirs Bande wiedergefunden. Statt dessen hatte ihn sein Weg ins Sanatorium geführt, wo er aller Wahrscheinlichkeit nach Ärzte und Schwestern mit kleinen Delikten zur Verzweiflung getrieben hatte. Maigret sah ihn Sanatorien und Strafanstalten wechseln, ständig unterwegs zwischen Krankenhaus, Pflegeheim und Erziehungsanstalt.
      Er fürchtete sich nicht. Er wußte auf alles dieselbe Antwort: seine Krankheit. Er lebte von ihr, wie er eines Tages an ihr sterben würde …
      »Du weigerst dich also, mir euren Mann vom Kanal zu nennen?«
      »Ich kenne ihn nicht.«
      Dabei sah er Maigret höhnisch an und fuhr fort, gierig in seine Wurst zu beißen und schmatzend zu kauen.
      Nach einer Weile brummte

Weitere Kostenlose Bücher