Semenon und die kleine Landkneipe
angekommen waren, bewunderten ein neues Auto und hatten ihre Stadtkleidung mit dem Sportdreß vertauscht. Nur der Doktor hatte seinen Anzug anbehalten.
Er war der Besitzer des neuen Wagens. Es war seine erste Fahrt. Man fragte ihn nach allem möglichen, und er war nur zu gern bereit, die Vorzüge der Neuerwerbung ins rechte Licht zu rücken.
»Vielleicht braucht er etwas mehr Benzin, aber …«
Fast jeder hatte ein Auto, aber das des Doktors war neu.
Seine Frau war so glücklich, daß sie im Wagen blieb, um ihres Mannes Lobgesang zu Ende zu hören. Doktor Mertens war ein junger Mann, mager, schmächtig, und seine Bewegungen waren kraftlos wie die eines blutarmen Mädchens.
»Ist das dein neuer Rumpelkasten?« fragte James.
Er ging interessiert um den Wagen herum und brummte vor sich hin:
»Darf ich ihn mal ausprobieren? Morgen früh? Du hast wohl nichts dagegen?«
Die Anwesenheit Maigrets hätte störend wirken können. Aber man nahm kaum Notiz von ihm. Jeder fühlte sich zu Haus im Landgasthof und tat, was ihm gefiel.
»Kommt deine Frau nicht, James?«
»Doch. Sie muß bald hier sein.«
Man holte die Boote aus dem Schuppen. Einer reparierte seine Angelrute mit einem Seidenfaden. Bis zum Essen bildeten sich kleine Gruppen, und statt einer allgemeinen Unterhaltung hörte man nur vereinzelte Gesprächsbrocken.
»Ist Madame Basso zu Haus?«
»Es muß eine schwere Zeit für sie sein!«
»Wissen wir schon, was morgen geschehen soll?«
Maigret fühlte sich doch etwas überflüssig. Man umging ihn, ohne es zu unterstreichen. Wenn James nicht bei ihm war, ging er allein auf der Terrasse oder am Ufer auf und ab. Und als es Abend wurde, machte er sich die Dämmerung zunutze, um die in der Nähe der Villa Basso postierten Beamten aufzusuchen.
Sie lösten sich ab und aßen einzeln im zwei Kilometer entfernten Gasthaus von Seineport. Als der Kommissar erschien, zog der Beamte, der gerade frei hatte, eine Angel aus dem Wasser.
»Ist was vorgefallen?«
»Nichts. Sie lebt wie gewöhnlich. Von Zeit zu Zeit sieht man sie im Garten. Von den Lieferanten kommt der Bäcker um neun, der Schlächter etwas später, und gegen elf der Gemüsemann mit seinem Wagen.«
Im Erdgeschoß brannte Licht. Hinter dem durchsichtigen Vorhang konnte man die Umrisse des Jungen erkennen, der mit einer Serviette um den Hals seine Suppe aß. Die Beamten hielten sich in einem Wäldchen am Flußufer versteckt. Der Angler bemerkte wehmütig:
»Wenn man nur könnte, wie man wollte! Es wimmelt hier von wilden Kaninchen …«
Von der Pinte klang Klaviermusik herüber, zu der einige Paare, wohl Arbeiter aus Corbeil, tanzten.
Einer der üblichen Sonntagmorgen in Morsang. Angler am Flußufer oder in grün gestrichenen Booten, die festgebunden waren. Ruderer und Segler.
Es war, als ginge hier alles nach bestimmten, unabänderlichen Regeln. Die Landschaft war hübsch, der Himmel war heiter, die Menschen waren friedlich und vielleicht haftete darum dem Ganzen ein fader Beigeschmack an.
James erschien in weißer Hose, blau-weiß gestreiftem Trikot und Espadrillen, eine amerikanische Marinemütze auf dem Kopf. Statt des Morgenkaffees bestellte er einen großen Cognac mit Selterswasser.
Er fragte Maigret:
»Hast du gut geschlafen?«
Ein kleines Detail – in Paris hatte er ihn nicht geduzt. In Morsang duzte er alle, unwillkürlich auch den Kommissar.
»Was hast du vor?«
»Ich glaube, ich werde zur Pinte gehen.«
»Dort treffen sich alle zum Aperitif … Willst du ein Boot?«
Maigret war als einziger im dunklen Anzug. Man gab ihm ein frisch gestrichenes Boot, in dem er kaum das Gleichgewicht halten konnte. Als er schließlich ans Ziel kam, war es zehn Uhr, und man sah erst einen einzigen Gast. Er saß in der Küche und aß ein Stück Brot mit Wurst. Maigret hörte die Großmutter zu ihm sagen:
»Da muß man vorsichtig sein … Einer meiner Jungen ist draufgegangen, und er war größer und stärker als Sie!«
Der Gast mußte in diesem Augenblick so krampfhaft husten, daß er den Bissen im Munde nicht hinunterbrachte. Mitten im Hustenanfall bemerkte er Maigret und zog die Stirn in Falten.
»Einen Krug Bier!« bestellte der Kommissar.
»Wollen Sie nicht lieber auf der Terrasse sitzen?«
Nein! Er zog die Küche vor mit dem gescheuerten Holztisch, den Strohstühlen und dem Wasserkessel, der auf dem Herd
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