Semenon und die kleine Landkneipe
Ungeduldig trommelten seine Finger. Endlich eine Frauenstimme:
»Ja, bitte, mit wem wollen Sie sprechen?«
»Man hat mich angerufen, Mademoiselle.«
»Nicht daß ich wüßte. Die Nummer der ›Taverne Royale‹ ist überhaupt nicht verlangt worden. Bitte, legen Sie auf.«
Er ahnte ein Unheil, riß die Tür auf und stürzte hinaus. Auf der Terrasse stand ein Mann neben James. Es war Marcel Basso. Er erkannte ihn, obwohl er abgemagert, müde und dürftig gekleidet war. Mit fiebernden Augen starrte Basso auf die Telefonzelle.
Er sah Maigret im selben Augenblick, in dem dieser ihn sah. Seine Lippen bewegten sich wie beim Sprechen. Dann verschwand er in der Menge.
»Wie viele Gespräche?« fragte die Dame an der Kasse.
Maigret aber schoß an ihr vorüber. Die Terrasse war
dicht besetzt. Bis Maigret sie durchquert und die Straße erreicht hatte, war schon nicht mehr festzustellen, welche Richtung Basso eingeschlagen hatte. Mindestens fünfzig Taxis kamen vorüber. Saß er in einem von ihnen? In welchem? Oder war er auf einen Autobus gesprungen?
Maigret kehrte verärgert an den Tisch zurück, setzte sich, sagte kein Wort, schenkte James, der sich nicht gerührt hatte, keinen Blick.
»Die Kassiererin läßt fragen, wie viele Gespräche sie notieren soll«, sagte der Kellner.
»Bestellen Sie ihr einen schönen Gruß!«
Als er auf James’ Lippen ein leises Lächeln bemerkte, wandte er sich ihm zu und fauchte ihn an: »Ich gratuliere Ihnen.«
»Glauben Sie vielleicht …«
»Daß es abgekartetes Spiel war? Ja.«
»Bedaure. Zwei Pernod, Kellner, und Zigaretten!«
»Was hat er Ihnen gesagt? Was wollte er überhaupt?«
James lehnte sich zurück und seufzte, als wäre jede Unterhaltung zwecklos.
»Wollte er Geld? Wo hat er den Anzug aufgetrieben, den er trug?«
»Er kann doch nicht in weißer Flanellhose und in dem Hemd, das er anhatte, ewig in Paris umherlaufen!«
Das war tatsächlich das Kostüm, in dem sich Basso im Bahnhof von Seineport davongemacht hatte. James’ Gedächtnis war gut.
»War es heute das erstemal, daß Sie mit ihm Verbindung hatten?«
»Daß er mit mir Verbindung hatte!«
»Sie wollen also nichts sagen?«
»Sie würden sich gewiß nicht anders verhalten. Ich bin sehr oft sein Gast gewesen. Er hat mir nie etwas getan.«
»Wollte er Geld?«
»Er hat uns eine halbe Stunde beobachtet … Schon gestern hatte ich das Gefühl, daß er drüben auf der anderen Seite stand. Es fehlte ihm wohl der Mut …«
»Sie haben mich ans Telefon rufen lassen!«
»Er schien so müde zu sein!«
»Hat er Ihnen nichts gesagt?«
»Erstaunlich, wie ein Anzug, der nicht paßt, einen Menschen verändern kann«, seufzte James.
Maigret sah ihn von der Seite an.
»Wissen Sie, daß man Sie der Mitschuld bezichtigen könnte? Mit Recht übrigens!«
»Es gibt vieles, was man tun könnte. Wobei allerdings sehr fraglich ist, ob das, was wir Recht nennen, immer Recht ist.«
Dabei machte er sein albernstes Gesicht.
Ernsthaft fügte er hinzu:
»Wo bleiben die zwei Pernod, Kellner?«
»Hier sind sie schon.«
»Kommen Sie auch nach Morsang? Ich dachte, wenn wir zu zweit sind, können wir ebensogut ein Taxi nehmen … Das kostet hundert Franc. Die Fahrkarte kostet pro Kopf …«
»Und Ihre Frau?«
»Sie fährt immer im Taxi. Sie sind fünf, mit ihrer
Schwester und ihren Freundinnen. Das macht je zwanzig Franc, während die Fahrkarte …«
»Ja, ja, ich weiß …«
»Kommen Sie mit?«
»Ich komme. Kellner, wieviel?«
»Jeder für sich, bitte, wie üblich.«
Sie bezahlten prinzipiell getrennt. James gab zehn Franc Trinkgeld für den falschen Telefonbescheid.
Im Taxi sah er nachdenklich, ja besorgt aus. In der Nähe von Villejuif verriet er den Grund seiner Unruhe:
»Ich frage mich schon die ganze Zeit, wo wir morgen Bridge spielen werden.«
Es war die Stunde, in der das Gewitter einzusetzen pflegte. Und richtig: schon fielen die ersten Tropfen gegen die Scheiben.
5
Das Auto des Arztes
M an hätte erwarten können, in Morsang nicht die
übliche Stimmung anzutreffen. Am Sonntag vor einer Woche war das Drama passiert. In dem kleinen Kreis hatte es ein Todesopfer und einen Mörder gegeben, der entkommen war.
Als James und Maigret sich zu den anderen gesellten, war nichts davon zu spüren. Alle, die bereits
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