Semenon und die kleine Landkneipe
wahrscheinlich donnerstag. küsse.
Seit dem Beginn der Ferien hatte er seine Frau noch nicht im Elsaß besuchen können. Er stopfte sich eine Pfeife, blieb stehen und winkte ein Taxi herbei. Dem Chauffeur rief er die Adresse am Boulevard des Batignolles zu.
Er hatte bisher einige hundert Fälle bearbeitet und die Erfahrung gemacht, daß die Aufklärung sich gewöhnlich in zwei Phasen vollzog.
Zuerst galt es, mit dem neuen Milieu Kontakt aufzunehmen, Beziehungen zu Menschen anzuknüpfen, von denen man nicht das mindeste wußte, in eine Welt einzudringen, in der sich irgendein Drama abspielte.
Als Fremder, ja als Feind betrat man diese Welt. Die Menschen, denen man begegnete, waren unfreundlich, verschlagen oder nicht bereit, ihren Mund aufzumachen.
Übrigens war für Maigret diese Etappe die erregendste. Es galt, Witterung zu nehmen, sich vorwärtszutasten ohne irgendeinen Anhalt, oft auch ohne Ausgangspunkt.
Man hatte einen Menschenschwarm vor sich, von denen jeder der Täter oder doch ein Mittäter sein konnte.
Und plötzlich hatte man das eine Ende des Fadens in der Hand, der Anfang der zweiten Etappe war gemacht, die eigentliche Untersuchung konnte beginnen, das Räderwerk lief an. Jeder Schritt brachte neue Aufschlüsse, das Tempo beschleunigte sich bis hin zur brutalen Enthüllung.
Der Mann von der Polizei brauchte das Geschehen nicht einmal sehr voranzutreiben. Die Ereignisse rollten ab, oft ohne sein Dazutun. Er brauchte ihnen nur zu folgen, ohne sich jedoch von ihnen überholen zu lassen.
In dieser Lage befand sich Maigret jetzt, seitdem Ulrich
entdeckt war. Noch am Morgen hatte er keine Ahnung, wer das Opfer jener Nacht am Kanal Saint-Martin gewesen war.
Und jetzt wußte er, daß es ein Trödler und Wucherer war, dem Feinstein Geld schuldete.
Diesem Faden galt es nachzugehen. Eine Viertelstunde später klingelte der Kommissar an Feinsteins Wohnungstür im fünften Stock eines Hauses am Boulevard des Batignolles. Ein Mädchen mit struppigem Haar und dummem Gesicht machte ihm auf und schien nicht zu wissen, ob es ihn einlassen sollte oder nicht.
Doch im selben Augenblick fiel Maigrets Blick auf James’ Hut, der im Vorzimmer an einem Kleiderhaken hing.
War es ein Glied in der Kette der sich nun überstürzenden Ereignisse? Oder war es eine Störung im Räderwerk? Das wußte Maigret nicht.
»Ist Madame Feinstein zu Hause?«
Er machte sich die Schüchternheit des vermutlich gerade vom Lande gekommenen Mädchens zunutze, ging hinein und trat auf eine Tür zu, hinter der er Stimmen hörte. Er klopfte und öffnete gleichzeitig.
Die Wohnung glich den meisten kleinbürgerlichen Wohnungen des Viertels. Der Salon war mit den üblichen vergoldeten und zerbrechlichen Möbeln ausstaffiert. James stand am Fenster, betrachtete in Gedanken verloren die Straße.
Madame Feinstein trug ein schwarzes Straßenkleid und ein kokettes Krepphütchen. Sie war wohl gerade dabei auszugehen, und anscheinend war sie äußerst erregt.
Im Gegensatz zu James, der Maigret überrascht und auch etwas verlegen begrüßte, empfing sie ihn mit großer Freundlichkeit.
»Willkommen, Herr Kommissar, nehmen Sie bitte Platz. Ich war gerade im Begriff, James seine Dummheit vorzuhalten …«
»So?«
Also eine häusliche Szene. James sagte nur leise:
»Ich bitte dich, Mado …«
»Sei still! Ich spreche jetzt mit dem Kommissar.«
Worauf James sich resigniert der Straße zuwandte.
»Wenn Sie nur ein gewöhnlicher Polizeimann wären, Herr Kommissar, würde ich mich hüten, so zu Ihnen zu sprechen … Doch Sie waren unser Gast in Morsang, und man sieht auf den ersten Blick, daß Sie die Menschen verstehen …«
Sie war eine Frau, die stundenlang reden konnte, die alle Welt zum Zeugen anrief und die Geschwätzigsten zum Schweigen brachte.
Sie war keine Schönheit, nicht einmal besonders hübsch. Aber sie war reizvoll, besonders in dieser Trauerkleidung, die ihre Lebenslust eher betonte als dämpfte.
Sie war gut gewachsen, fast üppig, und sicher eine stürmische Geliebte. Es bestand ein fast gewaltsamer Kontrast zu James, seinem gelangweilten Gesicht, seinem vagen Blick, seiner phlegmatischen Gestalt.
»Jeder weiß, daß ich Bassos Freundin bin, nicht wahr? Und ich schäme mich dessen nicht, ich habe nie ein Geheimnis daraus gemacht … Und niemand hat mich deshalb schief angesehen. Hier nicht und nicht in Morsang. Ja,
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