Semenon und die kleine Landkneipe
von dem James gesprochen hatte, einem Ameisenhaufen in wildem Aufruhr, weil eine Ameise getötet war!
Der Kommissar sah wieder das Bild Feinsteins vor sich, wie er hinter der Pinte im hohen Grase lag. Und er sah die Gendarmen auf den Landstraßen, wie sie jedes Auto anhielten. Der Ameisenhaufen in Aufruhr!
»Verdammter Saufbruder!« brummte er vor sich hin und dachte mit einem Gemisch aus Zorn und Sympathie an James.
Und er bemühte sich, die Dinge wieder nüchtern und klar zu sehen. Was hatte er eigentlich in der Rue Championnet zu suchen?
Natürlich, er wollte wissen, wohin James die dreihunderttausend Franc gebracht hatte …
Das führte ihn wieder zu den drei Bassos, Vater, Mutter und Sohn, die sich irgendwo verkrochen hatten und auf jedes Geräusch der Außenwelt angstvoll lauschten.
»Zu dumm, daß ich mich jedesmal zum Trinken verleiten lasse!«
Er war nicht betrunken, aber auch nicht nüchtern. Schlechtgelaunt legte er sich nieder. Er fürchtete, mit einem scheußlichen Kopfweh zu erwachen.
James hatte nicht nur die Ecke für sich, von der er phantasierte, er hatte seine eigene Welt, die er in allen Teilen für sich mit dem Baumaterial zimmerte, das er im Pernod oder einem guten Cognac fand. Er bewegte sich in dieser Welt, ohne sich um die Wirklichkeit zu kümmern.
Es war eine Welt mit etwas verwischten Konturen, ein Durcheinander aufgescheuchter Ameisen, körperloser Schatten, wo nichts einem bestimmten Zweck diente, wo der Weg kein Ziel hatte, wo man diesen ohne Mühe zurücklegte, aber auch ohne Freude und ohne Trauer, in einem Nebel, der sich nie verzog.
In dieser seiner Welt hatte James, der Mann mit dem kahlen Clownsschädel und mit der schleppenden Stimme, sich Maigrets allmählich bemächtigt.
Es war so weit gekommen, daß der Kommissar von Basso, seiner Frau und dem Jungen träumte, wie sie aus einer Kellerluke spähten, um angstvoll die Schritte der Vorübereilenden zu beobachten.
Als er am Morgen das Bett verließ, empfand er die Abwesenheit seiner Frau schmerzlicher denn je. Auf einer Karte, die er von ihr erhielt, war zu lesen:
Beginnen nun mit dem Einkochen der Aprikosen. Wann wirst du dich endlich überzeugen, wie der Gelee geraten ist?
Er setzte sich schwerfällig an seinen Schreibtisch, schob den Briefstapel, der ihn erwartete, auf die Seite und ließ den Bürodiener herein.
»Jean, was bringen Sie?«
»Lucas hat angerufen, er erwarte Sie in der Rue des Blancs-Manteaux.«
»Welche Nummer?«
»Das hat er nicht gesagt. Er nannte nur die Straße.«
Maigret überzeugte sich, daß keine wichtige Post dalag, ging dann zu Fuß ins Judenviertel, dessen Hauptgeschäftsstraße die Rue des Blancs-Manteaux ist. Dort hatten sich die meisten Trödler niedergelassen.
Die Uhr zeigte halb neun. Alles war ruhig. An der Ecke sah Maigret Lucas langsam auf und ab gehen.
Lucas hatte den Auftrag, Victor Gaillard seit dessen Freilassung letzte Nacht ständig zu beschatten.
»Wo ist unser Mann?« fragte Maigret.
Der Beamte wies mit einer Kopfbewegung auf eine an einem Schaufenster lehnende Gestalt.
»Was macht er hier?«
»Darüber bin ich mir nicht klar. Zuerst hat er sich bei den Halles herumgetrieben. Dann hat er sich auf eine Bank gelegt und ist eingeschlafen. Um fünf hat ihn ein Polizist aufgescheucht, und er ist hierhergegangen … Seitdem hält er sich vor diesem Haus auf, er kommt und geht und preßt sein Gesicht an die Scheibe, vermutlich,
um sich vor mir interessant zu machen …«
Victor hatte Maigret bemerkt. Er machte, die Hände in den Taschen, ein paar Schritte, wobei er mit höhnisch verzogener Miene pfiff. Dann steuerte er auf eine Stufe zu und setzte sich, als hätte er nichts anderes zu tun.
Auf dem Schaufenster war zu lesen:
Hans Goldberg,
Ein- und Verkauf, Gelegenheitskäufe.
In dem halbdunklen Laden sah man einen kleinen Mann mit Spitzbart, den das ungewohnte Treiben draußen zu beunruhigen schien.
»Warte auf mich!« sagte Maigret.
Er ging über die Straße und trat in den Laden, der mit alten Kleidern und anderen Dingen angefüllt war. Es herrschte eine beklemmende Luft.
»Haben Monsieur einen besonderen Wunsch?« fragte der kleine Jude zaghaft.
Im Hintergrund des Ladens war eine Glastür, durch die man eine dicke Frau einem kleinen Jungen das Gesicht waschen sah. Das Waschbecken stand auf dem Küchentisch neben Kaffeetassen und einer
Weitere Kostenlose Bücher