Semenon und die kleine Landkneipe
Maigret.
»Er war doch der erste! Vor ihm habe ich meinen Mann nicht einmal im Traum betrogen … Sie müssen wissen, daß er sich sehr verändert hat … Damals trank er nicht, er hielt auf sich und hatte noch Haare auf dem Kopf.«
Das Zünglein an der Waage schwankte weiter zwischen Tragik und Komik. Maigret mußte sich zusammennehmen, um nicht zu vergessen, daß Ulrich tot war, daß jemand ihn in den Kanal geworfen hatte, daß Feinstein sechs Jahre später von einer Kugel getroffen und daß Basso mit seiner ganzen Familie von der Polizei gejagt wurde.
»Glauben Sie, Kommissar, daß er über die Grenze gekommen ist?«
»Ich habe keine Ahnung …«
»Im Notfall würden Sie ihm helfen, nicht wahr? Sie sind in seinem Haus gewesen und haben ihn sicher schätzengelernt.«
»Ich muß ins Büro, es ist höchste Zeit«, sagte James, indem er auf sämtlichen Stühlen nach seinem Hut suchte.
»Ich komme mit«, sagte Maigret geschwind.
Er wollte nicht mit Madame Feinstein allein bleiben.
»Haben Sie es so eilig?« fragte sie, sichtlich enttäuscht.
»Ja, ich habe zu tun … aber ich komme wieder …«
»Sie können sicher sein, daß Marcel sich dankbar zeigen wird für alles, was Sie für ihn tun.«
Sie war stolz auf ihr diplomatisches Geschick. Schon sah sie Basso unter Maigrets Schutz die Grenze passieren und Maigret hocherfreut einige Banknoten entgegennehmen.
Als er ihr die Hand gab, drückte sie sie herzlich und sehr vielsagend. Sie zeigte auf James und flüsterte ihm zu:
»Man kann ihm nicht böse sein … Er trinkt eben!«
Die beiden Männer gingen schweigend den Boulevard des Batignolles entlang, James hatte den Blick auf das Pflaster geheftet, Maigret blies genießerisch kleine Rauchwölkchen vor sich hin und freute sich am Straßenleben.
Sie waren bis zur Ecke des Boulevard Malesherbes gekommen, als der Kommissar beiläufig eine Frage an seinen Begleiter richtete:
»Stimmt es, daß sich Feinstein nie in Geldsachen an Sie gewandt hat?«
James zuckte mit den Schultern.
»Er wußte doch genau, daß ich nichts hatte.«
»Waren Sie schon immer in der Bank?«
»Nein, ich war Übersetzer bei einer amerikanischen Ölfirma am Boulevard Haussmann und verdiente kaum tausend Franc im Monat.«
»Hatten Sie ein Auto?«
»Ich fuhr mit der Metro, wie ich es übrigens auch heute noch tue.«
»Hatten Sie schon Ihre Wohnung?«
»Nein. Wir wohnten zur Untermiete, in der Rue de Turenne.«
Er war offensichtlich müde und zeigte Widerwillen im Gesicht.
»Trinken wir schnell was?«
Ohne die Antwort abzuwarten, trat er in die Eckbar und bestellte zwei Gläser Cognac.
»Mir macht es nichts aus, wissen Sie, aber ich möchte meiner Frau gern Ärger ersparen. Sie hat so schon Sorgen genug.«
»Sie ist wohl nicht gesund?«
»Sie dürfen nicht glauben, daß sie ein lustiges Leben führt … Nur die Sonntage in Morsang bringen ihr einige Abwechslung.«
Und dann fragte er unvermittelt, nachdem er zehn Franc auf die Theke gelegt hatte:
»Kommen Sie heute in die ›Taverne Royale‹?«
»Vielleicht.«
Als er Maigret die Hand gab, murmelte er nach einigem Zögern, wobei er zur Seite blickte:
»Basso … noch immer unauffindbar?«
»Berufsgeheimnis«, erwiderte Maigret gutmütig lächelnd. »Sie haben ihn wohl sehr gern?«
Doch James hatte sich bereits in Bewegung gesetzt. Er sprang auf einen Autobus in Richtung Place Vendôme.
Maigret sah ihm nach und blieb noch eine Weile rauchend am Straßenrand stehen.
9
Ein großer Schinkenkauf
A m Quai des Orfèvres wurde Maigret überall ge
sucht. Denn die Gendarmerie von La Ferté-Alais hatte soeben folgende Meldung erstattet:
Familie Basso gefunden. Erwarten Anweisungen.
Es war ein schönes Resultat wissenschaftlicher Arbeit, unterstützt vom Zufall.
Was die wissenschaftliche Arbeit betraf, so hatte sie ihren Anfang genommen, als Maigret die Untersuchung des von James in Montlhéry zurückgelassenen Autos anordnete. Diese Untersuchung hatte ergeben, daß sich die weiteren Nachforschungen auf einen verhältnismäßig kleinen Umkreis, dessen Zentrum La Ferté-Alais war, beschränken konnten.
Der Zufall kam ihnen hier unter höchst ungewöhnlichen Umständen zu Hilfe. Die Gendarmen hatten die Gasthöfe ergebnislos durchsucht, die Passanten beobachtet. Mindestens hundert Ortsansässige waren
Weitere Kostenlose Bücher