Sensenmann
Wangen. Ein Löffel zitterte in der Luft und dicke Tropfen einer undefinierbaren Suppe platschten zurück auf den halbvollen Teller.
»Ich kann das nicht essen, bitte.« Leises Flehen. »Es ist zu salzig.«
»Willst du damit sagen, ich hätte dein Essen versalzen?« Bis auf das erneute Klatschen herrschte Totenstille. Matthias Hase hatte die Augen geschlossen und versuchte, ein Bild zu dem Dialog heraufzubeschwören, aber es wollte ihm einfach nicht gelingen zu sehen, wer da von der Walze gequält wurde.
»Was meinen die anderen? Ist eure Suppe auch zu salzig?« Auch wenn er keine Bilder zu dem Fragment fand, Matthias wusste, dass niemand etwas geantwortet hätte. Ein vorsichtiges Kopfschütteln war alles, was man auf diese rhetorische Frage erwidern durfte. Die Speisen und Getränke der anderen waren ja auch stets in Ordnung. Es betraf immer nur ein Kind – dasjenige, das die Semper gerade auf dem Kieker hatte, und es war
nie jemand von den Älteren. Die Walze schikanierte bevorzugt die Kleinen.
Auch Melissa, seine kleine Schutzbefohlene, bekam verdorbenes Essen vorgesetzt. Keiner wusste, wie Isolde Semper es anstellte, denn die Suppe wurde immer aus der großen Terrine geschöpft, kein Kind bekam eine Extrawurst, aber die Erzieherin schaffte es irgendwie gleichwohl.
Matthias hatte die Augen wieder geöffnet. Seine Finger glitten über die Tasten und hinterließen klappernde Echos in der Stille des Nachmittags. Die Luft im Arbeitszimmer roch nach staubigem Papier.
Er musste Isolde Semper finden, wo auch immer sie jetzt lebte. Und er hoffte inständig, dass sie noch lebte. Sie musste inzwischen auf die sechzig zugehen, genau wusste er es nicht.
Die Walze war nicht die Schlimmste gewesen. Im Vergleich zu den anderen erschienen ihre Quälereien sogar fast harmlos, alle Betroffenen hatten die Marter überlebt. Dennoch durfte auch sie nicht ungestraft davonkommen. Auf eine Reihenfolge hatte er sich nicht festgelegt. Matthias Hase überließ sich ganz seinen Eingebungen, wartete darauf, dass sein Gehirn ihm den Namen des Nächsten, den er suchen sollte, eingab. Er vertraute seinem Unterbewusstsein, das die schrecklichen Erinnerungen nur nach und nach an die Oberfläche ließ, in kleinen Portionen, die der Geist gerade noch bewältigen konnte. Das diffuse Gefühl, dass da weit schrecklichere Dinge im Verborgenen lauerten, verstärkte sich zwar mit zunehmender Konfrontation mit der Vergangenheit, aber noch war er anscheinend nicht bereit, sich all dem zu stellen.
Den Erinnerungen an die Essensfolter hielt sein Geist stand. Vielleicht auch deswegen, weil er nie selbst betroffen gewesen war. Die Walze hasste zarte, kleine Mädchen wie Melissa am meisten. Das jeweilige Kind wurde gezwungen, Löffel für Löffel
hinunterzuschlucken. Wenn es sein musste, auch mit Schlägen. Irgendwann waren alle anderen fertig und verließen den Speiseraum, das würgende Geräusch von Nahrung, die die Speiseröhre wieder nach oben quoll, im Ohr.
Matthias hatte es nie mit eigenen Augen gesehen, aber wenn die Kinder ihr Essen tatsächlich erbrachen, mussten sie den sauersalzigen Brei erneut auflöffeln. Geschah dies, konnte sich die Prozedur über Stunden hinziehen, manchmal bis zum Abendessen. Übergeben – Verzehren. Erneutes Speien – nochmaliges Aufessen.
Bis auf die Schläge ins Gesicht hatte die Semper keine Gewalt angewendet, und sie beteiligte sich auch nicht an den nächtlichen »Aktivitäten« der männlichen Betreuer. Isolde Semper hatte eine sadistische Freude daran, Kinder mit verdorbener Nahrung zu drangsalieren, das war aber auch alles. Mochte manch einer meinen, solcherart Quälerei sei nicht lebensbedrohlich; der Selbstekel jedoch, der bei den Kleinen zurückblieb, die ihr eigenes Erbrochenes gegessen hatten, führte zu seelischen Verletzungen, die oft schwerer heilten als körperliche Wunden.
Vielleicht hatte die Walze den Tod nicht verdient. Das würde sich zeigen, wenn er ihr gegenüberstand.
Matthias Hase betrachtete sein leeres Colaglas. Seit dem Aufenthalt im Heim hatte er nie wieder Tee getrunken. Schon der Geruch von Fenchel oder Kamille verursachte ihm Übelkeit. Er richtete den Blick zurück auf den Bildschirm.
Von draußen drang Kindergeschrei herein. Staubfünkchen tanzten im Licht der Nachmittagssonne. Wohlwollend summte der Rechner. Lautlos erschien eine Liste von Namen und Adressen auf dem Bildschirm.
»Da haben wir dich ja.« Matthias Hase biss sich auf die Unterlippe und grinste dann.
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