Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
Vom Netzwerk:
Erinnerungen nur so strotzen. Die Fenster im Erdgeschoss waren samt und sonders mit Brettern vernagelt. Es wäre ja auch zu schön gewesen. Aber sie hatten die Kellerfenster vergessen, schmale Vierecke, durch die ein schlanker Körper vielleicht passen würde. Einen Versuch war es wert. Matthias ging ein paar Schritte und suchte nach einem passenden Stein. Er wählte das Viereck in der Mitte.

     
    Im Keller roch es muffig, ein Gemisch aus Schimmel, Fäulnis und Salpeter, untersetzt von einem Hauch nach Verwesung, so als verrotteten in den Winkeln kleine Tiere, die den Weg nicht wieder hinausgefunden hatten. In den Ecken türmte sich Abfall. Matthias kniff die Augen zusammen und riss sie sofort wieder auf, aber das Flimmern auf seiner Netzhaut verschwand nicht. Er ärgerte sich, dass er nicht daran gedacht hatte, eine Taschenlampe mitzunehmen. Im Halbdunkel konnte man nur wenige Details erkennen. Nach drei Schritten war er an der Holztür angekommen und drehte sich noch einmal um. Diesen Raum hier schien sein Unterbewusstsein nicht zu erkennen. Nichts von dem, was sich ihm hier darbot, weckte irgendwelche Erinnerungen. Matthias drückte mit der Hand gegen die Klinke, und die Tür schwang quietschend auf und gab den Blick auf einen nachtschwarzen Gang frei. »Na, mach schon.« Seine eigene Stimme hörte sich wie die eines Fremden an. Zittrig und ein wenig heiser.
    Mit nach links und rechts gestreckten Armen tappte er durch den schmalen Gang und befühlte dabei die Wände. Als seine Finger auf eine Längsfuge trafen, wusste Matthias, dass er die nächste Tür erreicht hatte. Von ganz weit weg hörte er das dünne Kinderstimmchen von vorhin das zittrige Lied singen. Zögernd drückte er gegen die glatte Oberfläche, bis sie nachgab.
    Auch hier gab es ein Fenster, das einen müden Schein spinnwebverhangenen Lichtes hereinließ. Zu seiner Zeit hatten sie nicht geahnt, dass da ein Fenster gewesen war, denn man hatte es vernagelt, damit die Kinder, die hier Buße für ihr vermeintliches Fehlverhalten tun sollten, nichts sahen. Sie sollten in absoluter Dunkelheit sitzen und nicht wissen, wann man sie wieder ans Tageslicht ließ, frierend, hungrig, durstig, allein. Manchmal waren auch Erwachsene hier gewesen. Zusammen mit den Kindern.
    Matthias begann zu zittern und schlang beide Arme um den
Körper. Die Arrestzelle schien eine finstere Kälte auszustrahlen, als sei all das Leid im Mauerwerk gespeichert worden.
    »Halt das Balg fest!« Die Männerstimme klang barsch. »Dieses Gezappel macht mich rasend!«
    »Ich gebe mir Mühe.« Eine Frau. »Aber leicht ist es nicht. Die da wehrt sich ganz schön.«
    »Gib ihr halt noch eine Ohrfeige, was soll’s? Wir wollen doch keinen Aufruhr.« Der Mann keuchte jetzt. »Aber pass auf, dass keine Spuren zurückbleiben. Ich möchte nicht morgen Früh erklären müssen, dass das kleine Dummerchen gegen einen Schrank gelaufen ist, weil sie zu blöd ist, im Dunkeln aufs Klo zu gehen.« Zweimal klatschte es. Ein ersticktes Wimmern ertönte.
    »Na, siehst du. Schon viel besser. Wenn du machst, was wir dir sagen, geht es viel leichter und du liegst ganz schnell wieder in deinem Bett. Und morgen Früh hast du alles vergessen. Und jetzt zieh dein Nachthemd aus.« Das Wimmern wurde zu einem Schluchzen. »Na, na. Wer wird denn gleich heulen? Mach schon!« Die Frauenstimme wechselte übergangslos von einem tröstenden zu einem keifenden Tonfall. »Wir haben nicht ewig Zeit. Leg dich da hin!«
    Kerzenlicht flackerte. Die Ziegelwände strömten einen Geruch von Moder aus. Ein Reißverschluss zirpte. Dann ließ sich der Mann auf alle viere nieder und kroch zu der Matratze. Sein Keuchen wurde zu einem Hecheln. Die Frau drehte sich ins Licht. Sie lachte hämisch. Ihr Schweinsgesicht glänzte im Kerzenschein.
     
    Leise wisperten die Blätter der Linden. Matthias sah nach oben. Die Sonne blendete durch das Laub. Draußen auf der Straße tuckerte ein Moped vorbei. Dann war es wieder still. Der verwilderte Park schlief im Mittagslicht.
    Matthias drehte den Kopf von links nach rechts und spürte
den Schmerzen in seinem Nacken nach. Das Halsgelenk knackte bei jeder Bewegung. Er musste das Haus verlassen haben, ohne es zu merken. Genauso, wie er vorhin die Mauer überklettert hatte. Die Szene aus dem Kellerverlies brannte in ihm wie Salzsäure.
    Der Mann war Rainer Grünkern gewesen. Ein jüngerer Rainer Grünkern, das reliefartige Gesicht, die großporige Nase  – es gab keinen Zweifel. Aber die Frau …

Weitere Kostenlose Bücher