Sensenmann
Hy-pnose mindestens eine Stunde.«
»Das ist richtig, Frau Sandmann.« Er schenkte ihr ein beruhigendes
Lächeln, aber sie entspannte sich nicht. »Da heute Freitag ist und dies mein letzter Termin, macht es nichts, wenn wir ein bisschen überziehen.« Mark versuchte, zu ihr durchzudringen. Seine Patientin wirkte heute wie ein unsicheres Kind. Beim letzten Termin am Dienstag hatte sie fast die ganze Zeit selbstbewusst und rational agiert. Es war ihm nicht so vorgekommen, als beunruhige die bevorstehende Hypnose sie so stark. Hier stimmte etwas nicht.
»Wenn Sie möchten, können wir auch nur reden. Wir werden nichts unternehmen, was Sie nicht wollen.«
Maria Sandmann konnte ihn nicht ansehen. Sie saß auf der vordersten Stuhlkante, wie beim letzten Mal die große Handtasche wie einen Schutzschild vor sich. Ihre Augen waren zusammengekniffen, die Schultern hochgezogen. Wovor hatte sie Angst? Sie musste zweimal ansetzen, ehe es ihr gelang, die Worte herauszubringen. »Ich habe mich gestern krankgemeldet. Mir geht es nicht gut.«
»Waren Sie bei einem Arzt?«
»Nein. Ich bin doch heute hier.«
»Ich meinte einen Allgemeinmediziner, Frau Sandmann. Ich bin Psychotherapeut.«
»Sind Sie kein richtiger Arzt?« Das kam fast flehend.
»Ich habe zwar Medizin studiert, mich danach aber auf Psychologie spezialisiert. Was fehlt Ihnen denn genau?«
»Seit zwei Tagen fühle ich mich schlecht. Irgendwie schlapp, müde, die Knochen tun mir weh, und es zerreißt mir fast den Schädel.« Sie schloss kurz die Augen, horchte in sich hinein. Das war noch nicht alles. Mark konnte sehen, dass noch mehr aus ihr herauswollte, also wartete er geduldig.
»Am Mittwoch bin ich abends mit einem Bekannten essen gegangen, der mich eingeladen hatte. Auf dem Heimweg musste ich mich übergeben. Damit hat alles angefangen. Könnte es eine Lebensmittelvergiftung sein?«
»Sie haben einmal gebrochen und dann nicht wieder?« Die Patientin nickte so zaghaft, dass man es kaum sehen konnte. »Hatten Sie Durchfall?«
»Nein.«
»Was ist mit Fieber?«
»Auch nicht.«
»Ging es Ihnen besser, nachdem Sie erbrochen hatten?«
»Nein. Schlechter. Es ging mir schlechter. Ich habe mich so schrecklich gefühlt, dass ich Donnerstag früh im Amt angerufen und mich krankgemeldet habe.« Während sie weitersprach, musterte Mark seine Patientin unauffällig. Ihr Gesicht hatte eine rosige Farbe, das Augenweiß war klar, und ihre Körperspannung war exzellent. Keine äußeren Anzeichen einer Krankheit.
»Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, was ich gestern den ganzen Tag gemacht habe. Als ich zu mir kam, lag ich in meinem Bett und es war fast Abend. Ich muss den ganzen Tag verschlafen haben!«
»Das ist nichts Schlimmes. Wie fühlten Sie sich danach?«
»Immer noch mies. Eigentlich hätte ich ja ausgeruht sein müssen, aber ich bin dauernd todmüde, obwohl ich heute auch bis Mittag im Bett geblieben bin.« Maria Sandmann hatte sich offensichtlich vor irgendetwas in den Schlaf geflüchtet. Das kam öfter vor, als der Laie annahm. Depressive zum Beispiel benutzten den Schlaf als Fluchtmöglichkeit vor der unerträglich scheinenden Realität. Was mochte der Auslöser gewesen sein? Das Essen mit dem »Bekannten«, nach dem sie sich erbrochen hatte? Etwas, das davor oder danach passiert war?
»Und … und … ich …« Die Patientin hatte die Hände vom Taschengriff gelöst. Unentwegt verschränkte und löste sie ihre Finger. »Ich bin wieder schlafgewandelt. Heute Nacht. Ich weiß nicht, wie es dazu kam, aber auf einmal fand ich mich in der Badewanne wieder, lag bis zum Hals in schönem warmem Wasser, umgeben von duftendem Seifenschaum.« Sie stockte kurz
und setzte dann fort. »Auf dem Wannenrand lag das schärfste Messer, das ich in der Küche habe – ein Hocho-Sushi-Messer. Es gleitet durch Fisch und Fleisch wie durch Butter.«
»Wissen Sie, wie es dorthin gekommen ist?«
»Ich muss es wohl selbst da deponiert haben. Obwohl ich mich nicht daran erinnere.«
»Was glauben Sie, warum es dort lag?«
»Eine Warnung. Es war eine Warnung an mich selbst.«
»Wovor sollten Sie gewarnt werden?« Mark lehnte sich zurück, bemüht, ihr nicht durch seine Körpersprache zu verraten, dass er alarmiert war. Er hatte die Narben auf ihren Unterarmen wohl bemerkt. Sie konnten noch aus der Pubertät stammen. Selbstverletzendes Verhalten kam bei Mädchen öfter vor, als man annahm. Es gab viele Varianten davon, und am häufigsten begann es im Alter zwischen
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