Sensenmann
zwölf und fünfzehn Jahren. Menschen, die so etwas taten, sich zum Beispiel »ritzten«, wie sie es selbst nannten, wollten die Erleichterung spüren, die sich einstellte, wenn sie in ihre unversehrte Haut schnitten. Und meist steckte kein versteckter Suizidversuch dahinter. »Ritzer« wollten nicht sterben, wollten sich nicht die Pulsadern öffnen, sondern sie taten es, weil nur so der aufgestaute Druck in ihnen nachließ. Das Ritzen wurde als Lösungsweg für Probleme benutzt, und schleichend zu einer Sucht. Schmerzen fühlten die Betroffenen dabei nicht. Im Gegenteil: Die Endorphin-Ausschüttung, die beim Schneiden entstand, fühlte sich für sie gut an.
Maria Sandmann hatte zahlreiche Narben. Und nun hatte die Frau sich nachts in ihrer Badewanne wiedergefunden, neben sich ein scharfes Messer. Das war außerordentlich bedenklich.
»Ich habe keine Ahnung, wovor ich gewarnt werden soll.« Maria Sandmann hob kurz die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Ich weiß es wirklich nicht.« Sie sah Mark an. Ihre Augen verdunkelten sich für eine Millisekunde, sie richtete sich auf und sprach mit festerer Stimme als eben weiter. »Also, Doktor,
meinen Sie nicht auch, dass mit mir etwas nicht stimmt?« Jetzt lächelte sie. Ein bisschen ironisch. Ihre eben noch sichtbare Niedergeschlagenheit schien wie weggeblasen. »Diese Mia Sandmann ist ganz schön verkorkst, was?«
»Denken Sie das von sich selbst?«
»Was sonst sollte man von einer Frau halten, die nach dem Essen mit ihrem neuen Freund auf die Straße kotzt, sich nach Hause bringen lässt und anschließend zwei Tage im Bett liegt, nur unterbrochen von einem nächtlichen Ausflug in die Badewanne, begleitet von einem Hocho-Messer?«
»Machen Sie sich nicht selbst schlecht, Frau Sandmann. ›Verkorkst‹ ist nicht der richtige Ausdruck. Sie haben Probleme, das wissen wir beide, und wir werden versuchen, diese zu lösen.«
»Na gut. Dann legen Sie mal los.«
Mark sah zur Uhr. Sie hatten noch eine halbe Stunde. »Sind Sie einverstanden, wenn wir heute um eine halbe Stunde verlängern? Dann könnten wir es gleich heute noch mit der ersten Hypnosesitzung versuchen.« Mia Sandmann biss sich auf die Unterlippe. Jetzt schaute sie wieder wie ein erschrockenes Reh. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie nicht bis nächste Woche Zeit hatten, weil etwas im Unterbewusstsein dieser Frau eskalierte, auch wenn er noch keine Ahnung hatte, was es war.
»Von mir aus. Deshalb bin ich ja heute hier, nicht?«
»Sehr gut. Über den Ablauf haben wir ja am Dienstag schon gesprochen. Es wäre gut, wenn Sie sich hinlegen. Wenn Sie wollen, können Sie sich gern ein bisschen zudecken.« Mark zeigte auf die leichte Wolldecke. Mia Sandmann stellte ihre Handtasche auf den Fußboden, erhob sich wie ein Roboter, ging zur Liege, legte sich hin und zog sich die Decke bis ans Kinn. Er begann mit der Ruheeinstimmung und bat die Patientin, sich ganz auf ihre Atmung zu konzentrieren. Die leichte Hyperventilation würde eine natürliche Absenkung des Wachzustandes bewirken. Therapeuten saßen bei der Hypnose nicht ohne Grund am Kopfende.
Der Patient sah sie so nicht, konnte aber die Stimme hören. Ließ man ihn nun die Aufmerksamkeit auf den über der Stirn schwebenden Finger richten, musste er leicht nach oben starren. Die Fixation der Augen auf ein Objekt führte zu einer Schielstellung nach oben innen. Wurden beide Augen in diesem Zustand offen gehalten, so kam es zuerst zu einem Austrocknen der Bindehäute und im Anschluss durch die Ermüdung der entsprechenden Muskeln zu Unscharf- oder Doppeltsehen. Das Anzeichen dafür war eine Erweiterung der Pupillen. Gleich darauf erfolgte eine reflektorische Umschaltung der Bewusstseinslage, die den Abläufen beim Einschlafen glich. Das kritische und selbstbewusste Denken trat in den Hintergrund, die äußere Umwelt wurde ausgeblendet. Maria Sandmann gab sich Mühe. Sie blinzelte nicht und starrte auf seinen Finger. Mark wiederholte mit ruhigen Worten die Atemanweisungen. Als ihre Pupillen sich erweiterten, wartete er auf das Vibrieren ihrer Lider, das ihm anzeigte, dass sie so weit war, während er unentwegt mit eintöniger Stimme die dazugehörigen Suggestionen wiederholte. Die Augenlider begannen zu zittern. Er war kaum dazu übergegangen, ihrem Unterbewusstsein zu sagen, dass die Augen ganz müde und schwer seien, da fielen sie auch schon zu. Mia Sandmann atmete flacher. Ihre Gesichtszüge wurden weicher.
Nun kam die Vertiefung der Hypnose. Er
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