Sensenmann
gelehnt, es war Sonnabendvormittag, draußen schien die Sonne, und die Vögel zwitscherten. Lara blies mit geblähten Wangen Luft aus. So war das früher schon gewesen. Immer wenn sie sich Mühe gab, mehr zu »sehen«, wenn sie sich besonders anstrengte, verschwanden die Gesichte. Sie ließen sich nie erzwingen und auch nicht bewusst herbeirufen.
Lara begann, den Inhalt ihrer Tasche zu sortieren und ging dabei in Gedanken ihr Vorhaben durch, um nichts zu vergessen. Handy, Notizbuch, Diktiergerät, Digitalkamera. Zwei Ersatzbatterien, Autoschlüssel, Papiere, Portemonnaie und ein Päckchen Taschentücher.
Letztes Jahr hatten ihre Vorahnungen etwas mit einem Mörder zu tun gehabt. Einem wahnsinnigen Serienmörder, der junge Frauen abschlachtete. Sie hatte nie wieder daran denken wollen, was dieser Psychopath den Opfern angetan hatte, was er auch ihr fast angetan hätte, aber nun kamen die Erinnerungen wieder hervor. Die damaligen Gesichte waren – genau wie eben – unscharf und verworren gewesen, mal hatte es sich um Bruchstücke einer nächtlichen Verfolgung, dann um Fragmente einer Sektion gehandelt. Die Bedeutung all dessen war ihr erst im Nachhinein klar geworden, als die Puzzleteile sich in das Täterbild einfügten. Was, wenn die erneuten Halluzinationen wieder Hinweise auf ein Verbrechen waren? Wenn die wahrgenommenen Splitter mit etwas zu tun hatten, das hier und jetzt geschah?
Sie drückte das Schloss der Tasche zu und nahm sich vor, gleich nachher die Gedankenfetzen aufzuschreiben.
»Guten Tag, Frau Ehrsam! Ich komme von der Tagespresse .« Lara musterte die alte Frau verstohlen, während sie ihr freundliches Lächeln beibehielt und hoffte, dass der Name vom Klingelschild auch tatsächlich zu der alten Dame gehörte und diese nicht nur zu Besuch hier war. »Ich hätte ein paar Fragen an Sie.« Hinter der Alten kläffte ein struppiger weißer Hund, traute sich jedoch nicht hervor.
»Bist du ruhig, Struppi! Was für Fragen?« Frau Ehrsam trug eine ausgeleierte Jogginghose und eine Flauschjacke darüber. Anscheinend fror sie, obwohl draußen mindestens fünfundzwanzig Grad waren. Wenigstens hatte sie die Tür nicht gleich wieder zugeschlagen. Lara hatte jetzt ohne Ergebnis alle Wohnungen in den vier Aufgängen dieses Blocks abgeklappert und verlor allmählich die Lust. Eben war ihr sogar schon der Gedanke gekommen, das Feld doch Tom zu überlassen. Sollte er sich mit den Bewohnern hier herumschlagen, die alle entweder vergesslich, krank oder alt oder alles zusammen waren; und wenn nicht das, dann am Sonnabendvormittag schon besoffen die Tür aufmachten. Sie blickte auf ihre Armbanduhr: halb drei. »Da drüben«, Lara deutete diffus hinter sich, »ist doch letzten Dienstag eine Leiche gefunden worden. Sicher haben Sie davon gehört?« Die Alte nickte.
»Ich berichte über diesen Fall.«
»Aha.« Frau Ehrsam reckte das Kinn noch ein wenig weiter vor, wobei sie einem Huhn auf der Suche nach Regenwürmern glich. Der Hund schnüffelte jetzt innen an der Türschwelle.
»Könnte ich Sie dazu befragen? Vielleicht ist Ihnen etwas aufgefallen?«
»Na gut. Kommen Sie rein.« Die Neugier schien geweckt. Die Frau schlurfte vorneweg. Ihre Pantoffeln lösten sich bei jedem
Schritt von der Ferse und machten dabei ein schlappendes Geräusch auf dem braungrünen Linoleum. Lara folgte ihr in die Küche, wobei sie sich unauffällig umsah und versuchte, sich aus dem Zustand der Wohnung ein Bild von der alten Frau zu machen.
In der Küche angekommen, deutete diese auf einen Stuhl. »Möchten Sie Kaffee?«
»Gern.«
Schweigend marschierte Frau Ehrsam hin und her, immer gefolgt von ihrem Hund, brachte Tassen, Zuckerdose und Milchkännchen sowie eine weiße Thermoskanne. Anscheinend war der Kaffee schon fertig, und Lara fragte sich, wie lange er schon darauf wartete, getrunken zu werden.
Mit einem Ächzen nahm die alte Frau Platz und wischte sich die Hände an der Jogginghose ab. Das Zittern ihrer Hände verstärkte sich, als sie eingoss. »Dann mal los. Was wollen Sie denn wissen?«
»Die Polizei geht bei dem Fall von Mord aus.« Damit verriet Lara kein Geheimnis. »Mich interessiert nun, ob Sie in den Tagen davor irgendetwas Ungewöhnliches beobachtet haben.«
»Was meinen Sie damit?« Die Alte war ein bisschen begriffsstutzig. Oder sie wollte die Journalistin aus der Reserve locken.
»Auswärtige Autokennzeichen. Unbekannte, die sich auffällig benommen haben.« Lara ging in Gedanken ihre Liste durch.
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