Sensenmann
die Stadt fahren, Schuhe kaufen.«
»Ach, komm! Es ist doch erst halb zwölf. Du kannst nachher bei mir durchgehen, und dann bist du gleich daheim.« Die Reihenhäuser am Rande Magdeburgs hatten an der Rückseite alle kleine Gärten, von denen jeder einen separaten Eingang besaß.
»Na gut.« Justin gab sich geschlagen. Schnell öffnete Max das Tor zu dem Schotterweg, und die beiden verschwanden um die Ecke.
Justin schob die Daumen unter die Träger seiner Schultasche und zerrte daran. Er konnte es nicht ausstehen, dass seine Mutter ihn zwang, den Ranzen auf dem Rücken zu tragen. Wie ein Kleinkind kam er sich vor, und dabei ging er doch schon in die zweite Klasse! Max dagegen hatte eine schicke neongrüne Umhängetasche.
Am liebsten hätte Justin sich des Ungetüms entledigt und den Ranzen hier am Anfang des Weges unter den Büschen versteckt. Aber das würde bedeuten, dass er nachher noch einmal zurückkehren musste, um die Schultasche abzuholen. Und dann würde er sich noch mehr verspäten. Max war schon vorneweg gehüpft. Sein Haar leuchtete in der Mittagssonne kupferfarben. Er drehte sich um und flüsterte: »Sei vorsichtig, wir müssen bei der alten
Semper vorbei!« Dann grinste er, wobei links oben eine große Zahnlücke sichtbar wurde.
Justin rannte Max nach. Alle kannten die alte Semper. Sie war eine griesgrämige Frau, die alles und jeden hasste, außer ihren Kater, das fette Vieh. Sie meckerte, wenn die Jungs auf dem Wäscheplatz Ball spielten, sie meckerte, wenn Frau Selig von gegenüber mit dem Kinderwagen am Sandkasten saß und das Baby weinte, sie meckerte, wenn Sarah und Sophie – zwei Mädchen aus Justins und Max’ Klasse – zwei Gärten weiter mit ihren Barbiepuppen spielten. Niemand konnte die Alte leiden; Justin hatte sogar ein kleines bisschen Angst vor ihr, aber das brauchte niemand zu wissen.
Max hatte inzwischen an einem der Gartentore angehalten und seine Umhängetasche abgelegt. Justin warf seinen Ranzen daneben, und dann spähten die beiden Jungs gemeinsam durch die Brombeerhecke auf das Grundstück von Richards Eltern.
»Kannst du was erkennen?«
»Sieht noch genauso aus wie vorgestern.« Max seufzte hörbar. »Die Leiter fehlt auch noch. Das kannste vergessen.«
»Mist.« Auch Justin seufzte. Sie hatten sich die ganze Woche ausgemalt, was sie ab heute alles mit ihrem Freund Richard aus der 3b in dessen neu errichteten Baumhaus anstellen wollten. Sie könnten sogar dort übernachten, wenn ihre Eltern es erlaubten, hatte Richards Mutter gesagt. Und nun das! Er griff nach den Trägern seines Ranzens. Richards Eltern hatten es wieder nicht geschafft. »Ich gehe heim. Sonst kriege ich echt Ärger.«
»Kommst du nachher rüber, wenn ihr vom Einkaufen zurück seid?« Auch Max schnappte sich seine Tasche.
»Auf jeden Fall.« Justin zerrte an den Schulterriemen und beide liefen los. Ein merkwürdiges Geräusch ließ sie innehalten.
»Was war das?« Max war stehen geblieben. »Klingt wie Kinderweinen. Warte mal.« Er hielt Justins Ärmel fest. »Das kommt von dahinten.« Beide Jungen standen reglos und spitzten die
Ohren. Dann setzten sie sich ohne ein Wort gemeinsam in Bewegung. Das Wimmern wurde lauter.
»Frau Seligs Baby?«
»Glaub ich nicht. Das hört sich anders an.« Justin rannte jetzt fast. Am Sandkasten vorbei. Bis zum übernächsten Tor nach dem Wäscheplatz. Dort war das Greinen am lautesten.
»Hier wohnt die dicke Semper.« Max war an dem schmiedeeisernen Tor stehen geblieben.
Aneinandergedrängt lugten die beiden über den Zaun, konnten aber nichts erkennen.
»Das ist kein Baby.« Justin schüttelte den Kopf. »Hört sich eher an wie ein Tier.«
»Könnte es diese Katze sein?« Max stieß mit dem Mittelfinger an die Gartenpforte. Sie war offen. Er drückte stärker, und das Tor schwang nach innen. Die Scharniere ächzten.
»Max! Das dürfen wir nicht!«
»Vielleicht hat die Katze sich verletzt und braucht Hilfe.« Max ignorierte seinen Freund. Sich nach allen Seiten umsehend, marschierte er vorsichtig den Trampelpfad zwischen den Beeten entlang in Richtung Terrasse.
»Es ist ein Kater. Ein verfettetes Vieh. Keine niedliche kleine Katze. Komm zurück, sonst taucht sicher gleich diese Hexe hier auf!« Justin wartete noch einen Augenblick, entschloss sich dann aber doch, Max zu folgen. Zehn Meter vor den Stufen machte er neben seinem Freund halt. Der dicke Kater saß oben, direkt vor der Terrassentür, und jammerte zum Gotterbarmen. »Der sieht doch ganz
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