Sensenmann
öffnete Lara die Tür. »Sie treffen sich drüben an der Kaufhalle zum Rauchen, Saufen und Rumgrölen.«
»Danke, Frau Ehrsam. Vielleicht fällt Ihnen noch mehr ein. Dann können Sie mich jederzeit anrufen.« Lara reichte der Alten ein Kärtchen, schob die Tasche auf der Schulter zurecht und eilte die Treppen hinab. Sehr ergiebig war das ja nicht gewesen, aber immerhin hatte sie einen Anhaltspunkt, und das war besser als nichts. Hatte eigentlich die Polizei alle Anwohner befragt?
Sie öffnete die schmierige Glastür und trat auf den Gehweg. Auf ihrem gelben Mini hatte sich eine braungraue Schicht niedergelassen. Wahrscheinlich hatten die Bullen keine Leute dafür. Im wahren Leben lief es fast nie wie im Film ab.
Der Häuserblock gegenüber war schon dem Erdboden gleichgemacht. Daneben lud ein Bagger unentwegt Betonbrocken auf bereitstehende Laster. Nicht mehr lange und die gegenüberliegende Straßenseite würde sich in eine Wiese, oder was auch immer die Stadtplaner damit vorhatten, verwandeln.
Lara wandte sich nach links und marschierte in Richtung des Supermarktes. Schon von Weitem konnte sie eine Gruppe schwarzgekleideter Jugendlicher an einem stillgelegten Springbrunnen ausmachen. Auf in den Kampf.
12
Sonnabend, der 18.07.
Liebe Mandy,
nur wenige Tage sind vergangen, seit ich den ersten Brief an Dich geschrieben habe, und heute sitze ich schon wieder an meinem Schreibtisch, um Dir von spannenden Neuigkeiten zu berichten – das geht ziemlich schnell, nicht?
Damit Du die von mir gewählte Züchtigung verstehst und gutheißen kannst, musst Du Dich zuerst erinnern. An die Person selbst und ihr Auftreten im Kinderheim.
Bist Du bereit?
Dann schließe kurz die Augen und erinnere Dich.
Die Frau hieß Isolde Semper und war Erzieherin in unserem Heim. Wir nannten sie »Walze«, weil sie ziemlich unförmig war und überhaupt keine Taille hatte. Fällt es Dir wieder ein? Frau Semper hat uns tagsüber beaufsichtigt, sobald wir aus der Schule kamen; jeden Tag, auch an den Wochenenden. Manchmal frage ich mich, ob sie keine Angehörigen gehabt hat, denn mir kam es so vor, als wäre sie Tag und Nacht dagewesen.
Wenn Du Dich erinnerst, dann weißt Du jetzt auch wieder, was die Passion dieser Frau war – die Nahrungsaufnahme.
Bei jeder Mahlzeit saß sie mit uns am Tisch. Und wehe, eins der Kinder wollte nicht aufessen! Wenn sie jemanden besonders quälen wollte, präparierte sie dessen Essen gezielt. Es war versalzen, mit Essigessenz versetzt, übermäßig gepfeffert, mit ungarischen Peperoni vermischt. Vor den Jungs fürchtete sie sich ein wenig, so glaube ich heute, und deshalb waren ihre bevorzugten Opfer immer die kleinen Mädchen.
Heute frage ich mich manchmal, warum wir ihr nicht Einhalt geboten haben, schließlich saßen wir ja mit euch im Speiseraum, aber auch wir waren eingeschüchtert.
Es war gar nicht so schwierig, sie zu finden, wie ich angenommen hatte. Das Internet ist ein tolles Instrument, um zu recherchieren.
Die Walze ist auch im Osten geblieben. Ich entdeckte sie in Magdeburg. Nachdem ich ihre Adresse kannte, habe ich die Gegend inspiziert. Ich erspare Dir die unwichtigen Einzelheiten. Es war jedenfalls für meine Belange fast ideal. Eine Reihenhaussiedlung in Magdeburg-Stadtfeld. Frau Semper wohnte allein in ihrem Häuschen. (Ich benutze die Vergangenheitsform, denn Du ahnst ja sicher schon, dass sie nicht mehr unter uns weilt.)
Wenn Du jetzt fragst, ob ich wieder den Trick mit dem Hermes-Paket angewendet habe, dann kann ich Dir sagen, dass das nicht nötig war. Die Semper hatte einen Kater. Ein vollgefressenes, träges Vieh. Stell ihn Dir so ähnlich wie diese Comicfigur Garfield vor. Das Tier kam mir wie gerufen. Ich benutzte ihn, um sie spät abends auf ihre Terrasse zu locken.
Auch sie ließ sich, genau wie Fischgesicht Meller, ohne Weiteres von meiner Pistole einschüchtern. Als wir dann in der Küche waren, war sie allerdings nicht mehr ganz so kooperativ. Ich hatte ihr versalzenen Bohneneintopf mitgebracht. Aber sie weigerte sich, auch nur davon zu kosten. Ich musste sie zwingen. Und die Alte war zäh. Sie hat im Gegensatz zu Meller nicht ein einziges Mal um Gnade gefleht, dabei musste sie ganz schön schlucken, im wahrsten Sinne des Wortes. Musst Du bei der Formulierung auch ein bisschen lachen, meine kleine Mandy? Auch das, was sie herausgekotzt hat, wollte sie partout nicht wieder essen. Darin glich sie uns Kindern damals aufs Haar, nur dass wir irgendwann
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