Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
Vom Netzwerk:
einmal die nach rechts geneigten Buchstaben. Dann faltete er den Brief zweimal und fuhr mit dem Daumennagel über die Knickstellen. Seine kleine Mandy, sein Püppchen. Ihr Bild war Tag und Nacht bei ihm. Die feinen blonden Haare zu Zöpfchen geflochten, die hochgebunden worden waren und so eine Schlaufe bildeten. »Affenschaukeln« hatten sie es genannt. Im hellen Licht hatten Mandys Haare immer einen rötlichen Schimmer gehabt. Sonnenlicht verstärkte auch ihre Sommersprossen, die im Winter fast unsichtbar waren.
    Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie heute, als erwachsene Frau, aussah. Für ihn war sie immer noch die Kleine, sein Püppchen, was wohl auch daran liegen mochte, dass er nicht miterlebt hatte, wie sie zur Frau herangereift war.
    Seine Schwester war ein kleines, zartes Kind gewesen. Und immer ein bisschen ängstlich. Sie hatte sich nie ganz fallenlassen können, war immer auf der Hut gewesen. Andererseits war das unter den Umständen, unter denen sie lebten, auch nicht verwunderlich.
    Er hatte sich bemüht, ihr beizustehen, für sie da zu sein, aber es war ihm nicht ständig möglich gewesen, Mandy zu beschützen. Die älteren Kinder hatten fast immer länger Unterricht als die jüngeren. Außerdem erledigten Ältere und Jüngere die Hausaufgaben in verschiedenen Räumen. Nur zu den gemeinsamen Mahlzeiten waren alle Heimkinder beisammen, saßen aber in Gruppen an Vierertischen  – Plätze zu tauschen war nicht erlaubt
und Sprechen unerwünscht. Auch an den Wochenenden gab es strenge Vorschriften und wechselnde Unternehmungen, die die Kinder zu absolvieren hatten.
    Die Schlafsäle für Jungen und Mädchen waren streng getrennt, und so war seine Kleine Nacht für Nacht auf sich allein gestellt gewesen.
    Matthias hatte damals schon die Vermutung gehabt, dass in den Stunden, in denen er nicht anwesend war, Schlimmes geschah, konnte es aber in seiner Zeit im Kinderheim nie beweisen. Und Mandy sprach nicht darüber. Von Monat zu Monat wurde sie stiller, zog sich immer mehr in sich zurück, sprach kaum noch, ihre Haare verloren den seidigen Glanz, der Blick ihrer hellen Augen wurde matt.
    Nicht zuletzt war er damals selbst noch ein Kind gewesen, ein Junge zwar, aber eben doch nur ein Jugendlicher, der es mit der Perfidie der Erwachsenen nicht hatte aufnehmen können.
    Heute konnte er anders vorgehen. Er war stark und unnachsichtig, nicht mehr der empfindsame Junge, er hatte Kraft, und er hatte die Macht, sich für all die Marter zu revanchieren.
     
    Matthias schob den Brief in einen gefütterten Umschlag und legte ihn in die Schatulle. Dorthin, wo schon der erste Brief an Mandy wartete. Noch war es nicht so weit, sie abzuschicken.
    Zum einen hatte er noch längst nicht alle Peiniger gefunden und gerichtet. Die Suche nach ihnen und die Vorbereitungen der Bestrafungen würden noch viel Zeit und Mühe in Anspruch nehmen. Und bevor nicht jeder seine Untaten gesühnt hatte, wollte er sich nicht der Gefahr einer Entdeckung aussetzen.
    Das war aber nicht der Hauptgrund. Matthias Hase hatte Angst, große Angst. Davor, dass Mandy mit den Erinnerungen nicht fertigwurde. Seine Briefe würden den fauligen Schlamm vom Boden ihres Bewusstseins wieder aufwühlen. Er hatte seine Schwester seit vielen Jahren nicht gesehen, wusste nicht, ob sie
die Vergangenheit komplett verdrängt hatte, um ruhig leben zu können.
    Was, wenn die Schreiben alte Wunden bei ihr aufrissen? Würde sie ihr jetziges Leben weiterführen können? Aus eigener Erfahrung wusste Matthias, dass die Erinnerung an längst vergangene Qualen genauso schmerzhaft sein konnte wie das ursprüngliche Erlebnis. Die Wunden der Seele vernarbten nie.
    Noch mehr fürchtete er sich jedoch vor einer möglichen Antwort seiner Schwester. Was, wenn sie ihn treffen wollte, um mit ihm über früher zu reden? Matthias hatte keine Ahnung, ob er dies würde ertragen können.
    Eines Tages jedoch würde er die Briefe abschicken. Sein Unterbewusstsein würde ihm sagen, wann es so weit war.
     
    Der Deckel der geschnitzten Schatulle schloss sich mit einem Klacken. Matthias stellte das Kästchen in den Schrank zurück. Zwei der Täter von damals hatten ihre gerechte Strafe erhalten. Sie waren mit der gleichen Methode bestraft worden, die sie selbst angewendet hatten  – Fischgesicht Meller mit Wasser und Isolde Semper, die Walze, mit verdorbener Nahrung.
    Er ging in die Küche, setzte sich, stemmte die Ellenbogen auf die Tischplatte und legte die Handflächen über das

Weitere Kostenlose Bücher