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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
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Kürze.
    Matthias atmete heftig. In seinen Ohren rauschte das Blut. Eine kleine Fliege landete auf dem oberen Rand des Monitors und begann, sich die Beinchen zu putzen. Er fühlte sich körperlich erschöpft, so als habe er einen anstrengenden Sportwettbewerb hinter sich. Würden sich auf den anderen Seiten echte Informationen oder auch nur die Vertröstung auf später verbergen? Noch einmal huschte sein Blick über das Menü, während er gleichzeitig überlegte, was sein ramponierter Verstand am ehesten ertrüge.

    Historie:
    Bevor es ein Kinderheim wurde, hieß das Haus »Villa Rosengarten«. Bis 1945 gehörte es einem Tuchfabrikanten. Die Villa Rosengarten wurde 1860 im Renaissancestil mit klassizistischen Einflüssen erbaut.
    Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Besitzer enteignet. Nur kurz darauf begann man, Kinder  – Kriegswaisen zuerst  – in der Villa unterzubringen, die 1950 den Namen »Ernst Thälmann« erhielt.
    Fast fünfzig Jahre lang, bis zur Wende 1989, fungierte die ehemalige Villa Rosengarten dann als Kinderheim.
    Auch hier wieder ein grobkörniges Foto. Es zeigte den Seiteneingang. Acht Stufen führten zu einer zweiflügligen Rundbogentür aus Holz. Das verschnörkelte Geländer an der Seite der Treppe war verrostet. Über dem Eingang fletschte ein glotzäugiges Dämonengesicht die Zähne. Solche Gestalten sollten böse Geister abschrecken und vom Haus fernhalten. Für Matthias war die Fratze immer ein Symbol gewesen. Ein Sinnbild für das, was im Haus geschah.
    Zahlreiche Mädchen und Jungen verbrachten hier ihre Kindheit. Das Kinderheim »Ernst Thälmann« war ihr »Zuhause«, manchmal über viele Jahre hinweg. Freud und Leid, Erfahrungen mit dem Leben fanden hier statt, Menschen wurden geprägt. Wie sehr  – das muss jeder selbst beurteilen.
    Matthias hörte sich selbst keuchen. Freud und Leid? Was für Freude konnte der Verfasser gemeint haben? Hatte es jemals schöne Augenblicke gegeben? Er jedenfalls erinnerte sich an nichts dergleichen. Aber vielleicht war ja der Verfasser dieser Seiten auch bloß vorsichtig mit dem, was er ins Netz stellte. Er überflog den Rest.

    Am 1. Januar 1986 wurde das Kinderheim von der VEB Gebäudewirtschaft an den Rat der Stadt, Abteilung Volksbildung übergeben.
    Ab 1988 erfolgten umfangreiche Umbauten. Das Nebengebäude wurde durch einen Verbindungsgang an das Haupthaus angeschlossen. Im Nebengebäude entstanden neue Wohneinheiten. Hier wohnten Jugendliche, die zur »Wiedereingliederung in den sozialistischen Alltag« vorbereitet werden sollten und meist aus Jugendwerkhöfen kamen. Im Zuge dessen wurden auch die Räume im Hauptgebäude verkleinert, und jede Etage erhielt eine eigene Küche und ein Bad.
    Am 30. Juni 1990 schließt das Kinderheim für immer seine Pforten.
    »Jugendwerkhöfe«, was für ein unschuldiges Wort für Strafanstalten, in denen Jugendliche zu systemtreuen DDR-Bürgern erzogen werden sollten!
    Neben dem Text waren weitere Fotos, alle in Schwarz-Weiß. Die Rückansicht des Hauses mit der verglasten Veranda, das halb verfallene Pförtnerhaus, der Jugendstilzaun und zum Schluss noch das Wirtschaftsgebäude. Noch einmal ließ Matthias seinen Blick von oben nach unten rutschen. Am Pförtnerhäuschen blieb er hängen. Ein Spitzdach über Fachwerk, zwei schmale Fenster, eine mannshohe Birke direkt vor der Tür. Etwas blitzte in seinem Kopf auf, aber er konnte den Gedanken nicht einfangen.
    Auch die rechteckigen Kellerfenster im Haupthaus, in einer Reihe unter den sieben Rundbogenfenstern im Erdgeschoss wirbelten Staub in seinem Hirn auf. Konzentrier dich!, flüsterte eine Stimme in seinem Kopf. Diese neu aufgetauchte Seite hatte ihn völlig aus dem Konzept gebracht, besonders die Bilder irritierten ihn. Matthias beschloss, nicht weiter darüber nachzugrübeln, und klickte sich zurück auf die Startseite. Die Erinnerungen
würden wiederkommen, wenn er bereit dafür war. Sein ursprüngliches Ziel war es gewesen, zu recherchieren, weitere Namen herausfinden.
    Wer hatte die Seite eigentlich ins Netz gestellt? Er suchte nach einem Impressum, fand jedoch nur das Datum der letzten Aktualisierung und eine E-Mail-Adresse mit der Bezeichnung »postmaster«.
    Die Seite Über mich war noch leer. So war nicht einmal ersichtlich, ob der ehemalige Heiminsasse männlich oder weiblich war. Matthias rückte den Mauszeiger auf die Mailadresse und das Outlook-Fenster öffnete sich. Seine Kopfschmerzen waren wie weggeblasen.

15
    »Mein Mandant räumt die

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