Sensenmann
Hände und schloss die Augen. So konnte er am besten nachdenken.
Die Nachtwache. Er war bei der Nachtwache stehen geblieben. Etwas geschah in den Nächten.
Das Feuerrad in seinem Schädel begann sich zu drehen und schleuderte Gedächtnisfetzen wie Protuberanzen nach außen.
Einmal war er aufgewacht, als ein Junge in den Schlafsaal zurückgebracht worden war. Der Kleine hatte geschwankt wie ein Schilfrohr im Wind. Ein Erzieher stützte ihn, half ihm in sein Bett, deckte den Kleinen zu und schlich wieder auf den Gang. Das alles hatte sich im Dunkeln und fast lautlos abgespielt. Matthias hatte keine Ahnung, was ihn geweckt hatte. Das Einzige, an das er sich noch erinnerte, war, dass der Kleine danach noch eine ganze Weile lang leise geschnieft hatte. Und auch das hatte er nur hören können, weil er direkt nebenan lag.
Etwas war in dieser Nacht geschehen. Etwas Schlimmes. Mehr als das gab sein Gehirn nicht frei. Die Schublade, in der das Wissen verborgen war, blieb geschlossen. Wer war dieser Erzieher gewesen? Und was hatte er dem Jungen angetan?
Matthias öffnete die Augen wieder, blinzelte mehrmals und starrte blicklos auf die Küchenfliesen.
Er hatte geweint, ohne es zu merken. Mit dem Ärmel wischte er sich über die Augen und schluckte mehrmals. Etwas zog ihn förmlich ins Arbeitszimmer. Er musste recherchieren. Routiniert fuhr er den Computer hoch.
Matthias starrte auf den Monitor. Seine Unterlippe zitterte, und er versuchte, seine Kaumuskeln im Zaum zu halten, damit die Zähne nicht unkontrolliert aufeinanderklapperten. Er beugte sich zur Seite. Seine Finger machten sich selbstständig und drückten den rot leuchtenden Knopf auf der Steckdosenleiste. Mit einem Knistern erlosch das Bild.
Die plötzliche Stille im Arbeitszimmer wurde nur vom rhythmischen Hämmern seiner Zähne unterbrochen. Das Pochen im Kopf kam mit der Macht einer Dampframme zurück. Er rieb sich so heftig mit den Fingern über die Stirn, dass rote Flecken entstanden. Matthias ging ins Bad, um sich noch eine Tablette zu holen. Die Blisterpackung in der Rechten, blieb er vor dem Medizinschränkchen stehen.
Er war vorgegangen wie immer: den Computer hochfahren und die Suchmaschine aufrufen. Den Namen des Kinderheims plus Ort eingeben. Der Form halber nach aktuellen Veröffentlichungen schauen und anschließend die E-Mails abrufen. Nur dass es dieses Mal nicht wie immer abgelaufen war, denn Google hatte einen neuen Eintrag ausgespuckt.
Beim Klick auf den Link war ein Schwarz-Weiß-Foto eines Hauses erschienen, das Matthias nie wieder hatte sehen wollen.
Er drückte eine Kapsel aus der Packung und versuchte, sie trocken hinunterzuschlucken, aber die Tablette rutschte nicht. Matthias beugte sich vor und trank direkt aus dem Hahn. Dann schüttete er sich mit beiden Händen reichlich kaltes Leitungswasser ins Gesicht, während in seinem Kopf die Gedanken wie wilde Mauersegler umeinanderjagten. Das Wasser hatte einen kupfernen Nachgeschmack. Zurück in der Küche holte er den Kräuterlikör aus dem Vorratsschrank und nahm einen kräftigen Zug direkt aus der Flasche. Matthias Hase trank sonst nie Alkohol, weil ihn das wirr im Kopf machte, aber heute war eine Ausnahme. Das Geschrei in seinem Kopf wurde leiser und verstummte. Nach einem weiteren Schluck des bitteren Schnapses fühlte er sich ausreichend gewappnet, ins Arbeitszimmer zurückzukehren und sich den Erinnerungen zu stellen.
Das Gebäude auf dem Bildschirm hatte sieben Fenster im Erdgeschoss und sieben darüber. Die drei mittleren Fenster im ersten Stock öffneten sich auf einen Balkon. Darüber waren noch einmal
drei Fenster, gekrönt von einem dreieckigen, verzierten Giebel. Matthias brauchte das Bild nicht zu vergrößern, um zu wissen, dass in dem Dreieck zwei stilisierte Löwen ihre Tatzen auf ein Blumenbukett gelegt hatten. Daneben ragte die Drahtkonstruktion einer Fernsehantenne in den Himmel. Gardinen gab es keine. Das Stückchen Garten, das man auf dem Foto vor der Villa sehen konnte, war ungepflegt. Es sah nicht so aus, als sei das Haus noch bewohnt.
Vorsichtig glitt sein Blick über den Text neben dem Bild.
Kinderheim »Ernst Thälmann« – Ein Haus mit Vergangenheit
– Historie
– Tagesablauf
– Gästebuch
– Fotos
– Mein Leben im Heim
– Kontakt
Ganz langsam wanderte der Mauszeiger zu dem Menüpunkt »Tagesablauf«, der linke Zeigefinger drückte die Taste.
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