Sensenmann
brauche ich auch keine Angst zu haben, dass Du mich verrätst. Deshalb denke ich jeden Tag darüber nach, ob ich Dir die Briefe – oder wenigstens den ersten, in dem ich Dir von Fischgesicht berichte – schicke. Vielleicht tue ich das bald. Ich bin so aufgewühlt!
Bevor ich mich nun für heute von Dir verabschiede, meine Mandy, noch ein Letztes: Vielleicht kann ich Dich eines Tages sogar besuchen, und wir nehmen uns in die Arme wie früher. Noch ist es aber nicht so weit, meine Kleine, noch bin auch ich nicht so weit, weil ich noch nicht alles gefunden habe, was in meinen Erinnerungen schläft. Ich muss es nach und nach erwecken, und erst wenn ich mich wirklich an alles erinnere, werde ich bereit sein. Eines ist aber heute schon gewiss, dass ich mich über alle Maßen auf diesen Augenblick freue.
Ich schließe wie im letzten Brief: In Gedanken bin ich bei Dir, meine Kleine. Tag und Nacht.
In Liebe,
Dein Matthias
13
»Guten Morgen, liebe Kollegen. Hatten Sie ein schönes Wochenende?« Der Redaktionsleiter reckte sich, um größer zu wirken. Papier raschelte. »Sie haben den Ausdruck vor sich?« Alle nickten, und so setzte er fort: »Am Gesamtplan für diese Woche hat sich nichts geändert. Alle langfristigen Termine sind geblieben. Gehen wir das noch einmal schnell durch. Isabell – Sie schreiben.« Die Praktikantin nickte eilfertig und klickte mit ihrem Kuli. Nach zehn Minuten war alles besprochen. Hampenmann blickte in die Runde. »Und nun noch ein paar Bemerkungen zum Schluss. Tom?« Der Angesprochene schaute auf, und Hampenmann lächelte ihm väterlich zu. »Die beiden Artikel über den Leichenfund in Grünau – große Klasse. Das hast du sehr schön geschrieben. Weiter so. Gibt es in dem Fall schon Neuigkeiten?«
»Nein, Chef. Jedenfalls noch nichts, was wir veröffentlichen könnten.«
Lara hatte das Gefühl, Tom drücke seinen Brustkorb noch ein bisschen weiter heraus, während er sich Mühe gab, nicht zu erfreut dreinzuschauen. Sie grub die Schneidezähne in die Unterlippe. Weiter so. Das bedeutete wohl, der Kollege sollte Fortsetzungen über die Plattenbauleiche schreiben. Nicht etwa sie . Andererseits hatte er noch nichts Neues erfahren. Sagte er zumindest.
»Das war’s für heute. Wer Fragen hat – ich bin bis vierzehn Uhr in meinem Büro, danach habe ich einen Außentermin. An die Arbeit.« Hampenmann erhob sich. Das war das Zeichen für alle anderen, es ihm nachzutun. Mappen wurden zugeklappt, Stühle scharrten. Einer nach dem anderen marschierte hinaus.
Lara betrachtete Friedrichs rosakariertes Hemd. Gewagte Farbe für einen fast Sechzigjährigen. »Außentermin, hm?« Friedrich
grinste zu seinen gemurmelten Worten. »Wahrscheinlich in einem Edellokal mit einem dieser unheimlich wichtigen Managertypen. Oder noch besser – mit einer gutaussehenden Tussi, die ihre Lippen viel zu rot geschminkt hat.« Lara musste lächeln.
»Ihr solltet nicht lästern.« Tom ging an ihnen vorbei und steuerte seinen Platz an.
»Du musst dich gerade aufregen …« Friedrichs Antwort hörte Tom nicht. Er hatte sich schon auf seinen Drehstuhl plumpsen lassen und fixierte angestrengt den Bildschirm.
»Ich geh eine rauchen.« Friedrich verschwand nach draußen. Lara setzte sich an ihren Schreibtisch und begann, den Redaktionsplan mit ihren Terminen abzugleichen.
»Was ist eigentlich mit dem Prozess gegen diesen ehemaligen Klinikarzt, der Kinder missbraucht haben soll?« Toms Stimme durchkreuzte ihre Überlegungen.
»Was soll damit sein?«
»Machst du die Berichterstattung?«
»Wer sonst?« Vor Laras Augen flackerten die Tabellenzeilen.
»Ich hab ja nur gefragt. Hast du etwa schlechte Laune?«
»Nein. Ich war in Gedanken.« Lara versuchte, ihren rasenden Puls unter Kontrolle zu bekommen. Wollte der Lackaffe ihr diesen Fall jetzt auch noch abspenstig machen?
»Dann ist es ja gut.« Sie hörte an Toms Stimme, dass er aufgestanden war. Sehen konnte Lara es nicht, weil sie noch immer auf ihren Terminplaner starrte. Der Kollege sollte auf keinen Fall merken, dass sie sich von ihm provozieren ließ. Ihr Zorn verlieh dem Papier einen rötlichen Schimmer. Pass bloß auf, mein Freund, dass du nicht zu übermütig wirst!
»Hallo miteinander!« Die Tür flog an die Wand, und Jo stürmte herein, ein breites Grinsen im Gesicht. »Tolles Wetter heute!« Der Fotograf hob kurz die Hand und winkte den aufschauenden Kollegen zu. Dann lächelte er Lara an. Ihre Empörung verflog so schnell, wie
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