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Sensenmann

Sensenmann

Titel: Sensenmann Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clausia Puhlfürst
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Gesicht. Jetzt kam der schmerzhafte Teil. Matthias Hase musste sich erinnern. Musste Dinge hervorholen, die besser im Verborgenen geblieben wären.
    Um auch die anderen Peiniger zu bestrafen, um die passenden Sanktionen vorzubereiten, musste er sich zuerst exakt daran erinnern, was diese den Kindern alles angetan hatten.
    Mit Mellers chinesischer Wasserfolter und dem Aufessen von Erbrochenem war es nicht getan. Das waren in einer Reihenfolge der Schrecklichkeiten harmlose Vergehen gewesen. Es hatte Schlimmeres gegeben, das wusste Matthias, aber sein Geist weigerte sich hartnäckig, die Erinnerungen daran preiszugeben.

    Er schloss die Augen.
    Zerkratzter Linoleumboden. Das Summen einer Fliege. Ein schmaler Lichtstreifen. Derbe Schuhe. Ein dumpfer Schlag.
    Matthias kniff die Augen noch ein wenig fester zusammen, aber das Bild blieb diffus. Er sah nichts als wirre Bruchstücke. Stattdessen verstärkten sich seine Kopfschmerzen, die die ganze Zeit latent vorhanden gewesen waren. Sein Gehirn verweigerte den Dienst. Es wollte einfach nicht mit den Namen der anderen Erzieher herausrücken. Matthias wusste, dass sie da waren, dass all die schrecklichen Taten, Namen, Gesichter gespeichert waren, sauber abgelegt in verschiedenen Schubladen, aber er konnte diese nicht öffnen. Seinem Bewusstsein fehlte der Schlüssel. Aber ohne die Namen gäbe es keine Recherche und ohne Recherche keine Abrechnung.
    Vielleicht half es, wenn er sich den Tagesablauf im Heim noch einmal vergegenwärtigte. Mit noch immer geschlossenen Augen kehrte Matthias Hase in die alte Villa vor dreißig Jahren zurück.
    »Ruhe dahinten! Es ist längst Schlafenszeit!« Eine barsche Männerstimme. Das Rascheln von grobgewebter Baumwolle. Ein Schalter klickte, es wurde hell. Feste Schritte näherten sich. »Hört ihr schwer? Jeden Abend das gleiche Theater! Ihr lernt es nie!« Mehrmaliges Klatschen, gefolgt von leisem Wimmern. Die Schritte tappten zurück, der Lichtschalter klickte erneut. Hinter Matthias’ fest geschlossenen Augen wurde es dunkel. Stuhlbeine kratzten über den Boden. Dann war Stille.
    Die Zeiten für die Nachtruhe im Heim waren gestaffelt. Dabei wurde nach Schulklassen eingeteilt. Alle Kinder bis Klasse vier wurden um halb acht ins Bett geschickt, um acht Uhr folgten alle Kinder bis zur Klassenstufe acht, um neun Uhr schließlich Klasse neun und zuletzt, um halb zehn, die Zehntklässler und Lehrlinge bis achtzehn Jahre.
    »Bettruhe« bedeutete nicht etwa, dass sie noch lesen oder sich unterhalten durften. Es wurde absolutes Schweigen verlangt, jeder
hatte in seinem Bett zu liegen, die Augen geschlossen. Man konnte sich vorstellen, dass es einem Jugendlichen mit zwölf, dreizehn Jahren schwerfiel, um acht Uhr abends schon schlafen zu gehen, besonders im Sommer. Diskutieren nützte jedoch nichts. Es gab Regeln, und diese wurden eingehalten. Damit es in den Schlafsälen trotzdem ruhig war, saß an jeder Tür ein »Wachhund« und beaufsichtigte die Kinder, bis irgendwann tatsächlich alle schliefen.
    Die Erzieher teilten sich die Dienstzeiten untereinander auf. Manche machten nur die Tagschicht, andere wechselten. Es gab drei Schichten, die Früh-, Mittags- und Nachtaufsicht.
    Der Nachtdienst  – immer mindestens zwei Erzieher, einer für die Mädchen, einer für die Jungen  – verschwand nach dem Frühstück, wenn die Kinder in die Schule gingen. Die Frühschicht blieb bis zur »Lernzeit« am Nachmittag, wenn die Hausaufgaben gemacht wurden, und wurde vom Spätdienst abgelöst. Die Semper war immer vor dem Abendbrot gegangen. Fischgesicht Meller hatte den Nachtdienst bevorzugt.
     
    Matthias öffnete die Augen. Das Sonnenlicht blendete ihn. Aus dem dumpfen Pochen hinter seiner Stirn war ein stetiges Hämmern geworden. In ein, zwei Stunden würde er eine ausgewachsene Migräne haben. Sein Körper wehrte sich mit allen Mitteln gegen die Erinnerungen.
    Im Medizinschrank stapelten sich die Schächtelchen zu Türmen. Matthias betrachtete die Aufschriften der Medikamente. Manches lag schon so lange hier, dass er gar nicht mehr wusste, wozu es gut war. Doch eine Tablettenpackung wurde regelmäßig erneuert. Seine Finger fanden sie zielsicher  – ein Mittel mit Triptan, wirksam bei schweren Migräneanfällen.
    Er marschierte in die Küche zurück und spülte die Tablette mit Cola hinunter. Den Schmerzen war vorgebeugt, jetzt sollte sein Kopf keine Ausreden mehr haben. Matthias Hase rückte
den Stuhl zurecht, stützte abermals den Kopf in die

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