Sensenmann
ihm vorgeworfenen Missbrauchsfälle ein. Wir wollen den Opfern damit eine Aussage vor Gericht ersparen.« Der Verteidiger zupfte seine Krawatte zurecht und wandte dabei den Blick nicht vom Richtertisch. Die beiden Jugendschöffen versuchten, ihren angewiderten Gesichtsausdruck unter Kontrolle zu bekommen.
Lara kritzelte »räumt Vorwürfe ein« in ihr Notizbuch und fügte »Strafminderung?« hinzu. Während der Richter antwortete, schaute sie sich verstohlen im Gerichtssaal um. Neben ihrem Kollegen Frank Schweizer von der Tagespost saßen noch vier weitere Journalisten, zwei Männer und zwei Frauen, die sie hier noch nie gesehen hatte. Auch die Reihe hinter ihnen war mit Pressevertretern besetzt. Sie alle hatten strikte Order bekommen, keine Details über die Straftaten des angeklagten Klinikarztes zu veröffentlichen. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen war das Interesse der Medien groß. Das regionale Fernsehen wartete
vor dem Gerichtssaal im Flur, um ein paar Bilder zu erhaschen. Sie wussten es nicht genau, aber dies konnte der letzte Verhandlungstag vor der Urteilsverkündung sein. Mit der Jugendkammer des Landgerichtes hatte Lara bisher wenig Erfahrung. Der Prozess fand wegen des Alters der Opfer nicht vor der sonst üblichen Großen Strafkammer statt.
Der Rechtsanwalt hatte inzwischen wieder neben seinem Mandanten Platz genommen. Nachdem der Richter eine Mittagspause von einer Stunde angeordnet hatte, erhoben sich beide und verschwanden, gefolgt von zwei Beamten, in Windeseile durch eine kleine Seitentür.
»Kommst du mit in die Cafeteria?« Frank Schweizer packte seine Sachen in eine schwarze Aktentasche und sah dann hoch.
»Gern.« Lara folgte ihm zu der riesigen zweiflügeligen Tür. Da es schon in einer Stunde weitergehen würde, lohnte sich ein Abstecher in die Stadt nicht.
»Wie findest du seinen Schachzug?« Frank flüsterte fast, als sie sich auf dem Flur an dem jungen Mann mit der Fernsehkamera auf der Schulter vorbeimogelten.
»Dass er den Missbrauch einräumt? Das habe ich erwartet. Seine Strafe würde mit Sicherheit höher ausfallen, wenn er alles abstreitet und die Mädchen vor Gericht aussagen müssten.«
»Ich finde den Typ widerlich.« Frank sprach noch immer leise, obwohl niemand mehr in ihrer Nähe war. Sie schritten die Treppen zur Cafeteria hinunter. »Ein Arzt! Hoffentlich bekommt er ordentlich was aufgebrummt!« Er stieß die Schwingtür auf. Sofort waren sie von Stimmengemurmel und Essensdunst umgeben. Fast alle Stühle waren besetzt. Lara ließ ihren Blick über die Anwesenden schweifen und entdeckte einen freien Tisch am rückwärtigen Ende des Raumes. Frank Schweizer im Schlepptau steuerte sie im Zickzack auf den Platz zu. Sie deponierten ihre Taschen auf den Stühlen und stellten sich dann an der Schlage an.
Jeder mit einem Tablett beladen kehrten sie zurück, nahmen Platz und begannen zu essen. Lara verglich den Sauerbraten des Kollegen mit ihrem Salat und lobte sich im Stillen für ihre Entscheidung.
»Schmeckt gut.« Frank Schweizer nahm einen Schluck Cola und sah sich dabei um. »Dahinten sitzt der Staatsanwalt.« Franks Kinn ruckte in Richtung Tür. »Und Roland Westwald von Leipzig heute ist bei ihm. Die verstehen sich anscheinend super.«
»Glaubst du, die werden heute noch mit allem fertig?« Lara war mit ihren Gedanken ganz woanders. Ihre Verabredung mit Ralf Schädlich nachher ging ihr nicht aus dem Kopf. Der Kriminalobermeister hatte sich bei ihrem gestrigen Anruf fast zu bereitwillig gezeigt, sich mit ihr zu treffen. Seine Freude darüber, dass sie ihn angerufen hatte, war nicht zu überhören gewesen, und Lara hatte den ganzen Abend mit Schuldgefühlen gekämpft, weil sie dem Beamten Interesse vorgaukelte, wo keines war. Sie wurde das klebrige Gefühl nicht los, sich damit auf eine Stufe mit Tom Fränkel herabbegeben zu haben.
»Das hoffe ich. Soweit ist alles durch, nur die psychologischen Sachverständigen haben noch nicht ausgesagt. Vielleicht werden die Gutachten auch nur verlesen.«
»Darauf bin ich gespannt.«
»Ich kann mir denken, was darin steht. Du hast den Typen doch gesehen und gehört. Ein manipulativer Pädophiler. Kaum anzunehmen, dass seine Zurechnungsfähigkeit eingeschränkt ist.«
»Warten wir es ab.« Lara pikte die Gabel in die letzten beiden Tomatenscheiben.
»Ist hier noch Platz?«
Lara ließ die Gabel wieder sinken und schaute auf. Eine schlanke Frau um die vierzig mit blondem Pagenkopf und auffallend grünen Augen stand vor
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